Eröffnung des Herzens
Sie hören ihn meistens nicht, aber wenn Ihr Herzschlag plötzlich weg wäre, wären es auch Sie. Denn Sie leben nur von Herzschlag zu Herzschlag. Dazwischen wohnt der Tod. Setzt nach einem Herzschlag kein nächster ein, bleibt die Uhr des Lebens stehen. Manchmal geschieht das imSchlaf oder beim Einkaufen. Kein Mensch kennt die Stunde seines Todes.
Ihr Herzschlag ist mein Beruf. Sechzig bis achtzig Mal in der Minute erzeugt dieser Ton Leben. Viele Herzen schlagen ruhig und kräftig, manche in steter Hetze. Auch wenn das Herz gelegentlich stolpert, es versucht immer weiterzumachen. Ich habe viele Herzen gesehen, die sich mit letzter Kraft dahinschleppten. Das Herz kennt kein Wochenende und keinen Urlaub. An Ihrem fünfundsiebzigsten Geburtstag hat es rund drei Milliarden Mal geschlagen. Es hat seine Arbeit schon acht Monate vor Ihrer Geburt aufgenommen – zweiundzwanzig Tage nach der Zeugung. Das Herz ist das erste Organ, das sich entwickelt, langevor dem Gehirn und dem ersten Atemzug. Ohne Herz läuftnichts. Es pocht durch die Jahre und Jahrzehnte, unbemerkt bis … etwas nicht mehr funktioniert. Oder eine Hightech-Optik als Zufallsbefund einen Defekt offenlegt, der noch gar nicht zu spüren war.
Herzsachen erscheinen immer gleich dramatisch. Ein Stechen im Herzen ist etwas ganz anderes als ein Stechen in der Hüfte. Alles, was mit dem Herzen zu tun hat, empfinden wir als einen Angriff auf unser Leben, unsere Unversehrtheit. Auch wenn die Ursache sich später als nicht lebensbedrohlich herausstellt: Herzschmerzen sind Anlass zur Sorge und gehen häufig einher mit Todesangst. Auch ein Kopfschmerz kann ein gefährlicher Vorbote sein, der letztlich zum Tode führt, durch einen Schlaganfall oder eine Hirnblutung. Doch ein heftiger Kopfschmerz ängstigt uns weniger als ein sachter Druck auf der Brust. Wir Menschen spüren tief im Inneren: Das Herz ist die Quelle allen Lebens.
Als Herzchirurg habe ich viele tausend Herzen in meinen Händen gehalten. Ich habe frühgeborene Babys operiert und bei hochbetagten Patienten Herzklappen repariert. Ich habe Kunstherzturbinen implantiert und Messerstichverletzungen am Herzen genäht. Als Organ ist das Herz bis in seine kleinsten Bestandteile untersucht. Wir wissen scheinbar alles – und doch wissen wir nichts. Wöchentlich erscheinen hunderte neue wissenschaftliche Publikationen mit Erkenntnissen über ein Organ, das sich mit dem Auftreten des Homo sapiens in den letzten dreihunderttausend Jahren nicht verändert hat ((1)). Der französische Philosoph und Mathematiker Blaise Pascal (1623–1662) scheint immer noch recht zu haben: »Das Herz hat seine Geheimnisse, die der Verstand nicht kennt.«
Unabhängig voneinander, zeitlich und räumlich getrennt, ohne Wissen voneinander und obwohl die Menschen weltweit verschiedene Sprachen benutzen, werden Herzen gemalt, um Liebe auszudrücken, irdisch und himmlisch. Handelt es sich dabei um eine in jedem Menschen zutiefst verankerte innere Wahrheit? Oder nur um einen Wunsch, den wir alle unbewusst teilen? In allen großen Kulturen der Menschheit, von der Steinzeit bis zur Gegenwart, in allen Religionen und spirituellen Schulen galt und gilt das Herz als ein Symbol, als das biologische Zentrum für Liebe, Mitgefühl, Freude, Mut, Stärke, Wahrheit und Weisheit. Im Zeitalter von Herztransplantationen und Datenmigrationen scheint d