: Natalie Fergie
: Die Nähmaschine Roman
: Wunderraum
: 9783641233501
: 1
: CHF 2.70
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 416
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Clydebank 1911: Die junge Jean verliert durch einen Streik in der Singer-Nähmaschinenfabrik Arbeit und Zuhause. Aber sie hinterlässt der Nachwelt eine versteckte Botschaft.
Edinburgh 2016: Als Fred das Erbe seiner Großeltern in Augenschein nimmt, findet er eine alte Singer 99K. Darin versteckt: Arbeitsjournale mit Nähproben und Notizen. Lesend begibt sich Fred auf eine Reise in die Vergangenheit und taucht ein in das Leben von vier Frauen – darunter seine Urgroßmutter Kathleen, die sich dank der Nähmaschine eine Existenz aufbaute. Und er erfährt von der mutigen Jean, die mit ihrer Botschaft weit mehr Herzen berührt hat, als sie ahnen konnte.

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Die »Textilenthusiastin« und gelernte Krankenschwester Natalie Fergie vertreibt handgefärbte Garne über das Internet. Und sie sammelt Nähmaschinen. Einer von ihnen, einer Singer 99K, setzt sie in ihrem Roman »Die Nähmaschine« ein literarisches Denkmal. Natalie Fergie lebt in der Nähe von Edinburgh.

Jean

21. März 1911

Singer-Werke, Clydebank


»Es gibt einen Streik!«

Jean hörte die Worte, die sie umschwirrten, doch sie versuchte, sie zu ignorieren. Der Vorarbeiter stand hinter ihr und beobachtete sie. Zum wiederholten Mal nahm er den Bleistiftstummel hinter seinem Ohr hervor – etwas, das so gar nicht zu seiner jüngsten Beförderung passte – und notierte etwas in sein neues Notizbuch. Bis vor ein paar Wochen war er noch einer von ihnen gewesen, und sie fragte sich, ob ihm vorher bewusst gewesen war, wie sehr sich die Dinge ändern würden, wenn er die neue Stelle antrat.

Der lange Arbeitsraum erinnerte an ein Klassenzimmer für einhundertzwanzig Schüler mit Einzeltischen, die zu je acht oder zehn zusammengeschoben waren. Niemand wusste, warum der Raum »Kontrollsaal« genannt wurde, genau wie niemand den Grund kannte, wieso der Raum, in dem die Nadeln hergestellt wurden, »Nadelsaal« hieß. Es war einfach so.

Für viele der Frauen im Arbeitsraum war der Vorarbeiter immer noch der kleine Junge mit den Segelohren, der früher im ärmsten Viertel der Stadt gewohnt hatte. Er war das Kind, dem sie dicke Brotscheiben gegeben hatten, wenn er mit ihren Söhnen auf der Straße spielte, der kleine Kerl, der immer ein bisschen nach Urin roch. Seine Beförderung störte sie kein bisschen, aber er war jetzt nicht mehr Teil ihrer Gruppe.

Er räusperte sich und sprach mit fester Stimme, als hätte man ihn dazu angewiesen. »Gibt es ein Problem, Miss Ferrier?«

Jean widerstand dem Drang, ihre Schultern kreisen zu lassen und den Hals zu strecken, um nach vier Stunden Arbeit etwas gegen den steifen Nacken zu tun. Sie hatte mitgezählt, daher wusste sie, dass dies die siebte Maschine heute Morgen war, die mehr als nur eine kleine Justierung des Spannungsreglers brauchte, und sie fragte sich, ob man sie ihr absichtlich gegeben hatte.

Sie verschwendete keine Zeit mit Aufblicken, sondern schaute weiter auf die Maschine. »Es liegt an der Nadel. Ich brauche eine neue.«

Er klopfte auf seine wichtige neue Uhr. »Sie müssen schneller arbeiten, das ist inakzeptabel.« Zufrieden mit seiner Ermahnung ging er weiter, auf der Suche nach einem neuen Opfer.

Sie hörte noch immer das Flüstern um sich herum, aber sie stellte sich taub und griff nach der Werkzeugkiste, die sie sich mit den sieben anderen Frauen an ihrem Tisch teilte. Links von ihr reichten die Fenster bis an die hohe Decke. Die kahlen Wände wurden nur von den bunten Mänteln und Schals unterbrochen, die zwischen jedem großen Glasrechteck hingen.

»Ganz sicher die Nadel«, murmelte sie vor sich hin. Sie nahm den kleinen Schraubenzieher und löste sie. Jean schloss die Augen und befühlte das feine Stück Stahl mit den Fingern. Das Metall war glatt, dünn wie ein Halm Frühlingsgras. Ein winziger Knick an der Spitze bestätigte ihre Diagnose. Sie ersetzte die Nadel durch eine neue und überprüfte, dass auf der Spule noch genug Faden für einen Probelauf war. Nicht zu viel, nicht zu wenig. Schließlich nähte sie die nötige Anzahl Stiche auf dem weißen Stoff, schwungvoller als üblich, schaute genau hin, wie die Nadel durch den Stoff glitt, ein Stich nach dem anderen. Sie überprüfte die Stichlänge und die Unternaht, und als sie mit dem Ergebnis zufrieden war, wickelte sie den abgeschnittenen Faden um die Fadenrolle oben auf der Maschine, als Zeichen, dass die Reparatur beendet war.

Erst jetzt erlaubte sie sich, auf die Stimmen zu achten.

Aus dem Wortfluss