: Katja Maybach
: Die Zeit der Töchter Roman
: Verlagsgruppe Droemer Knaur
: 9783426453612
: Mütter und Töchter
: 1
: CHF 10.00
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 352
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Der Mut der Frauen: Liebe und Leid in den Nachkriegsjahren In ihrem neuen Roman 'Die Zeit der Töchter' erzählt Katja Maybach die dramatische Familiengeschichte ihres Bestsellers 'Die Stunde unserer Mütter' weiter. Maria und Vivien haben den Krieg überstanden, ihre Töchter entdecken im München der 50er-Jahre das Leben. Doch während Anna und Antonia heimlich ein Wiedersehen ihrer Mütter mit den Frauen vorbereiten, die sie bei Kriegsende aus dem Lager retten konnten, sehen Maria und Vivien sich erneut Anfeindungen ausgesetzt: Ihr Einsatz für Flüchtlinge aus dem Osten sowie die sogenannten »Besatzungs-Kinder« führt immer wieder zu teils handgreiflichen Auseinandersetzungen. Als dann auch noch eine junge Ostpreußin auftaucht, deren Kind offensichtlich einen dunkelhäutigen Vater hat, bahnt sich eine Katastrophe an.

Katja Maybach war bereits als Kind eine echte 'Suchtleserin', was beinahe automatisch zum eigenen Schreiben führte. Schon mit zwölf Jahren schrieb sie ihren ersten Roman und einige Kurzgeschichten. Doch sie hatte immer schon eine zweite Leidenschaft: die Mode. Und so gewann sie mit fünfzehn Jahren den Designerpreis einer großen deutschen Frauenzeitschrift für den Entwurf eines Abendkleides. Mit siebzehn ging sie nach Paris und wurde zuerst Model in einem Couture Haus, später eine erfolgreiche Designerin. Nach einer schweren Krankheit begann sie, Romane zu schreiben. Bereits ihr Debüt 'Eine Nacht im November' war ein großer Erfolg und wurde in Frankreich ein Bestseller. Heute lebt die Autorin in München, sie hat zwei erwachsene Kinder.

München 1957


Kapitel eins


Anna

Der Zug aus Wien fuhr mit quietschenden Bremsen im Münchner Hauptbahnhof ein. Die Türen öffneten sich, die Reisenden stiegen aus und umarmten ihre Freunde oder Verwandten, lachten oder weinten, Blumen wurden von den Wartenden überreicht. Langsam zerstreuten sie sich. Der Schaffner lief an den Waggons entlang und warf die Türen zu.

Anna stand noch auf dem Bahnsteig, der sich immer mehr leerte. Jetzt erst nahm sie ihren Koffer hoch, verließ den Bahnsteig, blieb in der Bahnhofshalle stehen und sah sich um. Weitere Züge kamen an, Leute liefen aufeinander zu, drängelten sich an ihr vorbei.

Eine Stimme im Lautsprecher kündigte die Verspätung des Zuges aus Hamburg an.

Anna ging langsam an den Gleisen entlang. Sie hatte vergessen, wo damals genau ihr Vater abgefahren war. Vor diesem Moment ihrer Ankunft hier hatte sie sich gefürchtet, hatte geglaubt, dass die Erinnerungen sie überwältigen könnten. Aber nichts passierte. Sie brach nicht in Tränen aus, denn der Bahnhof heute erinnerte nicht an die gespenstische Stille, die am 13. Juni 1942 über der Halle gelegen hatte. Damals hatte Anna mit ihrer Mutter an dem blumengeschmückten Zug gestanden, der die vielen Soldaten nach Russland brachte.

Dieser Moment hatte über die Jahre an Schärfe verloren, wirkte jetzt verschwommen. Einer der wichtigsten Augenblicke ihres Lebens war im Laufe der Zeit verblasst, so sehr, dass sie sogar jetzt, da sie hier stand, nichts mehr empfand.

Anna fröstelte. Es war ein regnerischer Sonntagnachmittag, und sie musste an die Gegenwart denken, die kompliziert genug war. Gleich würde sie ihrer Cousine Antonia gegenüberstehen und sich noch einmal dafür bedanken, während ihres Engagements am Residenztheater bei ihr wohnen zu dürfen. »Ich bin so stolz auf dich«, hatte Antonia ihr am Telefon erklärt. »Meine Cousine, eine berühmte Schauspielerin aus Wien, wohnt bei mir.«

Antonia hatte angeboten, Anna am Bahnhof abzuholen, doch die lehnte ab. Ein Wiedersehen nach so vielen Jahren auf einem kalten, zugigen Bahnsteig erschien ihr besonders schwierig, und Antonia hatte offenbar das Gleiche empfunden.

Anna spürte ihre eiskalten Füße. Im Zug war die Heizung ausgefallen, und an ihren Schuhen waren die Sohlen durchgelaufen. Sie sah sich um. Sie könnte noch schnell irgendwo einen heißen Tee trinken, den Moment der Wahrheit hinauszögern. So betrat sie kurz entschlossen einen der Wartebereiche, über dem der Name stand:Europasaal. Sie setzte sich an einen der Tische zwischen jeweils zwei hohen Sofas aus rotem Kunstleder. Hier warteten Reisende auf die Abfahrt ihres Zuges oder Angehörige, die zu früh am Bahnhof waren, um Freunde oder Familie abzuholen. Manche trafen sich auch einfach nur hier.

Als die Kellnerin an den Tisch kam, bestellte Anna keinen Tee, sondern einen Kognak.

»Einen französischen oder einen deutschen, Fräulein?«

Anna lächelte. Sie war dreißig, und die AnredeFräulein bewies, dass sie vielleicht doch jünger wirkte. »Einen deutschen, bitte.«

Er war nicht so teuer wie der französische, doch er würde sie wärmen und ihr ein wenig Mut machen, bevor sie gleich Antonia gegenüberstand. Vor elf Jahren hatten sie sich tränenreich in den Armen gelegen und ewige Freundschaft geschworen.

Sie hatten sich gegenseitig besuchen wollen, einander schreiben, die Verbindung halten. In den schwierigen Kriegsjahren waren sie miteinander aufgewachsen, hatten sich ein Zimmer geteilt: zwei junge Mädchen zwischen Kindheit und Erwachsenwerden. Was war davon geblieben? Ein Briefwechsel, zuerst ellenlange Erzählungen, Austausch ihrer Erlebnisse, ihrer Wünsche und Träume. Doch die Briefe wurden seltener, Besuche fanden nicht statt, die Zeit fehlte. Vielleicht auch der Antrieb, die durchlebten Enttäuschungen, die Anna davon abhielten, ihre Cousine einzuladen. Wohin auch? Es hätte bedeutet, ihre Situation preiszugeben: dass sie