: Renee Milan
: Eine Frau mit Makel Roman
: Verlagsgruppe Droemer Knaur
: 9783426450529
: 1
: CHF 6.50
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 464
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Ihr Freund lässt sie noch im Krankenhaus sitzen, die Mutter bringt sie lieber in ein privates Kurhotel statt in die notwendige Rehaklinik: Lexa fühlt sich nach einem schweren Unfall und der darauf folgenden Amputation wie ein Freak, der am besten versteckt werden sollte. Erst als sie die alte Inge kennenlernt, fasst sie wieder Lebensmut. Stück für Stück erkämpft Lexa sich den Weg zurück in einen normalen Alltag. Nur von Männern will sie nichts mehr wissen - wer sollte sie mit ihrem Makel schon lieben können? Lexa ahnt nicht, dass der scheue Andreas mit ganz ähnlichen Ängsten kämpft ...

Renee Milan, geboren im Fränkischen, lebt und arbeitet mit ihrem Ehemann in München und ist viel auf Reisen, um Menschen und Orte kennenzulernen, über die sie schreibt.

6.


Über die Betreuung in Professor Heinrichs Privatklinik konnte Lexa sich nicht beschweren. Schwester Barbara und Schwester Danila kamen stets sofort, wenn sie nach ihnen läutete, und blieben immer freundlich, selbst wenn sie in ihrer Verzweiflung laut wurde und sie zum Teufel wünschte. Im Lauf des nächsten Vormittags erschien der junge Arzt, den Lexa bereits kennengelernt hatte, und wechselte von Schwester Barbara unterstützt die Verbände. Lexa wagte nicht hinzusehen, sondern drehte den Kopf und starrte durch das Fenster nach draußen.

»Das sieht sehr gut aus«, bemerkte der Arzt und wandte sich dann Lexa zu. »Es ist wichtig, dass Ihre Verletzungen gut abheilen. Möglicherweise müssen wir gar nicht mehr operieren, und das wäre die beste Voraussetzung für das baldige Anpassen der Prothesen.«

»Ich will keine Prothesen!«, rief Lexa entsetzt. »Ich will meine Beine zurück.«

»In dieser Klinik vermögen wir zwar viel für unsere Patienten zu tun, aber neue Gliedmaßen herzustellen liegt weit jenseits unserer Möglichkeiten.« Der Arzt lächelte ebenso nachsichtig wie die Krankenschwestern.

Lexa stellte sich vor, dass das Personal dieser Anstalt einen Chip eingepflanzt bekam, der dieses Lächeln und diesen künstlichen Optimismus erzeugte. Doch was der Arzt und Schwester Barbara auch erzählen mochten – sie wusste es besser. Sie würde nie mehr so wie andere Menschen sein, nie mehr ein normales Leben führen können, nie eine eigene Familie haben und niemals ein Kind, das Mama zu ihr sagte.

»So, fertig! Schwester Barbara gibt Ihnen noch eine Tablette gegen die Schmerzen.«

Der Arzt zeigte erneut seine Honigmiene und verabschiedete sich. Schwester Barbara breitete das Tuch wieder über das Gestell und füllte anschließend Lexas Glas.

»Sie sollten mehr trinken!«, riet sie und reichte Lexa eine Tablette. »Das hilft gegen die Schmerzen. Sollte es schlimmer werden, gebe ich Ihnen eine Spritze. Das will ich aber nur im Notfall tun, weil Ihre Eltern Sie heute Nachmittag besuchen kommen.«

Lexa blieb allein in ihrem Zimmer zurück. Der Durst zwang sie, ihrem Vorsatz, nichts zu trinken, untreu zu werden. Mehr aus Langeweile nahm sie das Steuergerät zur Hand und stellte den Kopfteil des Bettes so, dass sie bequem lag und den Fernseher gut im Blickfeld hatte. Dann schaltete sie das erste Programm ein. Es lief eine politische Sendung, die sie nicht interessierte. Sie ging durch sämtliche Programme hindurch, blieb auf einer Kindersendung hängen, die bald zu Ende war, und zappte zuletzt in einen schmalzigen Liebesfilm hinein. Als das Paar sich küsste und ewige Liebe schwor, kamen ihr die Tränen, und sie schaltete den Fernseher wieder aus.

Da sie befürchtete, Max würde sie wegen ihrer amputierten Beine nicht mehr anschauen, geschweige denn lieben, wollte sie ihn anrufen, um von ihm zu hören, dass seine Liebe zu ihr für alle Zeiten Bestand hatte. Doch als sie nach dem Telefon auf ihrem Nachttisch greifen wollte, verließ sie der Mut, und sie zog die Hand wieder zurück.

Punkt zwölf Uhr brachte