: Frido Mann
: Babylon
: Rowohlt Verlag Gmbh
: 9783688114276
: 1
: CHF 10.00
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 204
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Ein Romancier namens Mann In einer Kleinstadt nahe der deutsch-polnischen Grenze führt der jüdische Stardirigent Aurelio de Monti das von ihm wiederentdeckte Oratorium «Babylon» aus der Vivaldi-Zeit auf. Wegen einer unglücklichen Liebschaft mit der verheirateten evangelischen Pastorin Hendrike Hönig und der sich anbahnenden Freundschaft mit dem liberalen Islamforscher Ahmed Karimi bleibt er länger als geplant. Gemeinsam wollen die drei einen Dialog der Religionen ins Leben rufen und ein Zeichen gegen die rechte Szene setzen. Doch ihre Zukunftsvisionen von einer grundlegenden Erneuerung der weltweit zerstrittenen Religionen stoßen auf Widerstände. Als die von einer immer breiteren Bürgerschaft unterstützten Neonazis einen Brandanschlag auf das Asylantenheim verüben, gerät de Monti in Lebensgefahr.

Frido Mann, geb. 1940 in Monterey/ Kalifornien, arbeitete viele Jahre als Klinischer Psychologe in Münster, Leipzig und Prag. Er lebt heute als freier Schriftsteller in Pfäffikon/Schweiz und in Göttingen. Buchveröffentlichungen: «Professor Parsifal» (1985); «Der Infant. Roman» (1992); «Terezin oder Der Führer schenkt den Juden eine Stadt» (1994); «Brasa. Roman» (1999); «Hexenkinder. Roman» (2000); «Nachthorn. Roman» (2002); «Babylon. Roman» (2007).

Zwei


Aurelio de Monti betrat den Untermarkt und schritt auf dem ringförmigen Straßenzug mit Laubengängen entlang der hochgiebeligen, prächtigen Renaissance-Kaufmannshäuser hinunter in Richtung auf den die alte Stadt Görlitz teilenden Grenzfluss Neiße. Er hatte seinen schwarzen Wintermantel aufgeknöpft und den langen schwarzen Schal offen um den Hals gelegt. Der breitkrempige Hut aus dunklem Leder spendete seinen Augen Schatten, und er ließ sich von der freigiebig kraftvollen und hellen Vorfrühlingssonne durchwärmen. Die vormittägliche Ruhe auf dem noch fast menschenleeren Platz mit dem großen Neptunsbrunnen war Balsam für seine Seele. Besonders freute er sich auf die Fortsetzung seiner Recherchen in der nur noch wenige Schritte entfernten Oberlausitz’schen Bibliothek der Wissenschaften, die eben in diesen Minuten öffnete.

De Monti war von seinem Arzt eine Auszeit verordnet worden, nachdem der den Beginn eines Burn-out-Syndroms diagnostiziert hatte. De Monti, selbst promovierter Mediziner, wusste, dass seine zunehmenden depressiven Phasen unmittelbar damit in Zusammenhang standen, und hatte sich von allen Konzertverpflichtungen der kommenden Frühjahrs- und Sommermonate freigemacht. Er fühlte sich zwischen seinen beruflichen Pflichten und seinen privaten Forschungsinteressen zerrissen. Umso mehr freute er sich darauf, in der Abgeschiedenheit dieses geschichts- und kulturträchtigen Landfleckens dem schon lange nicht mehr erlebten Gefühl von Freiheit und Drang in unbekannte Räume hinein nachgeben zu können. Endlich fand er Zeit, sich in aller Ruhe den Forschungen zu dem hiesigen Philosophen Jakob Böhme zu widmen.

Doch heute hatte er sich vorgenommen, zuerst im monumentalen, alten Büchersaal der Bibliothek nach jüdischen Kommentaren der Thora, der Mischna und des Talmud zu suchen, um sich dort eingehender mit der um Schöpfung, Sünde und Gottesstrafe und um gnadenhafte Neuschöpfung kreisenden Thematik der fünf Bücher Mosis zu befassen. Während der Karnevalstage hatte er ganz zufällig im Büchersaal einen höchst überraschenden Fund gemacht. Der Einband einer Böhme-Biografie hatte sich als Deckblatt der Partitur eines geistlichen Oratoriums mit dem Titel «Babylon» erwiesen, verfasst von Orlando Sestrelli, einem Zeitgenossen Antonio Vivaldis. De Monti hatte sofort in der Bibliothek nach dem Werk gesucht und dort auch bald ein ziemlich umfangreiches Fragment gefunden, und die Vertonung der zudem sehr eigenwilligen Textversion der biblischen Erzählung über den Turmbau von Babel hatte ihn sogleich gefesselt. Er hatte sofort beschlossen, das Fragment mit Ergänzungen zu versehen und aufzuführen. Ihm war bewusst, dass er sich damit zwar wieder viel zu viel aufbürdete. Aber nicht zuletzt die Tatsache, dass ihm dieses von Sünde und menschlicher Hybris handelnde Werk gerade zu Beginn der vorösterlichen Buß- und Fastenzeit in die Hände gefallen war, machte es ihm unmöglich, von seinem Vorhaben abzulassen.

Als de Monti am Ende des Platzes die Neißstraße überquerte, um zum Bibliothekseingang im Haus Nummer 30 zu gelangen, nahm er gedankenversunken bereits jetzt den Hut von seinen dichten schwarzen Locken. Das helle Sonnenlicht blendete ihn, und er kniff seine schrägen, etwas dunkel umschatteten Augen zusammen, die seinen weichen Gesichtszügen mit dem Vollbart etwas undurchdringlich Hartes gaben. Er durchmaß mit energischen Schritten den länglichen Loggiahof, der zum Bibliotheksgebäude f