Justinus Kerners versöhnlicher Feldzug gegen den Aberglauben
Vom Mittelalter bis zur Neuzeit galt der Aderlass als Allheilmittel gegen fast jede Art von Krankheit. Ärzte konnten sich allerdings nur die Reichen leisten. Und die Armen? Nahmen Zuflucht zu weniger kostspieligen Mitteln, um ihre Gebrechen zu kurieren.
In Mariazell in der Steiermark, im bayrischen Andechs, im schweizerischen Maria Einsiedeln, aber auch an anderen Wallfahrtsorten konnte man kleine Bildchen der Gottesmutter kaufen, winziger noch als Briefmarken, aber wie diese in ganzen Bogen gedruckt. Im Volk hießen diese Bilderbogen ›geistliche Nahrung‹ oder ›Essbildle‹. Die Wallfahrer verschluckten die pillenartig zusammengeknüllten Papierchen und erhofften sich davon himmlischen Segen. Auch das Vieh bekam die ›geistliche Nahrung‹ vor dem Almauftrieb. Häufig mischte man die Bildchen als Heilmittel unter Speis und Trank. Die römische Ritenkongregation billigte noch 1903 diese Praxis, sofern sie »nicht in abergläubischer Absicht« gepflegt werde.
Verwandt mit diesen Schluckbildchen (denen der in der Schweiz gebräuchliche Ausdruck ›Fresszettel‹ seine Entstehung verdankt) sind die sogenannten Schabmadonnen aus Gips oder gebrannter Tonerde, welche bis in die Zwanzigerjahre des letzten Jahrhunderts an Marienwallfahrtsorten feilgeboten wurden. Um Krankheiten zu heilen, schabte man sich einige Partikel davon ab und nahm diese mit etwas Flüssigkeit zu sich. Um die Wirkung zu erhöhen, ließ man sie in der Regel nach dem Erwerb segnen (wohlgemerkt: nach dem Erwerb, denn mit gesegneten Gegenständen durfte nach allgemeiner Überzeugung kein Handel getrieben werden).
Noch 1950 konnten die Wallfahrenden im italienischen Loreto Steinstaub vom ›Heiligen Haus‹ erwerben, der Wohnstätte der Heiligen Familie, die angeblich von Engeln auf wundersame Weise von Nazaret ers