1. Kapitel
Ein kleines Mädchen kam an einem strahlenden Frühlingsmorgen den Berghang herabgerannt. Flink setzte es mit seinen nackten braunen Beinen über die wild wachsenden Ringelblumen hinweg. In den bewässerten Wiesen weiter unten im Tal blühten die Zwetschgenbäume; von oben betrachtet zogen sich zwei breite Bänder wie weißer Schaum die Flussufer entlang. Übermütige Zicklein tollten zwischen den Blumen, und die Störche hatten eben begonnen, ihre Nester auf den Strohdächern zu bauen. Die Natur erwachte strahlend aus der Winterruhe, und all die Kinder, die über den Berg verstreut lebten, ließen sich von der Frühlingslust anstecken: Sie tanzten und jauchzten und liefen miteinander um die Wette.
Rahma, die quer über die Weiden gerannt war, landete mit einem Satz auf dem Fußweg und hüpfte darauf weiter bergab. Sie war sieben Jahre alt und klein gewachsen, weil sie selten genug zu essen bekam. Ihr Stiefvater und seine Frau hatten sie nicht gern, ja, sie schlugen sie manchmal. Ihre Kleider waren zerrissen, und sie musste so schwer arbeiten, als ob sie schon erwachsen wäre. All das Belastende ihres kleinen Lebens konnte jedoch ihre Freude nicht dämpfen, wenn ihr gelegentlich einmal ein Extra-Vergnügen über den Weg lief. Und heute hatte sie großes Glück. Sie sollte allein die Ziegen hüten, während ihr Bruder irgendeinen geheimnisvollen Spaziergang mit der Mutter unternahm.
Zwei Stunden lang sollte sie frei und allein sein, bloß in Gesellschaft von Störchen und Ziegen! Zwei volle Stunden mit den Zicklein in der Sonne spielen dürfen! Niemand würde sie schimpfen oder sie an den Mühlstein jagen oder ihr schwere Wassereimer aufladen. Ihr müder Körper, von den Fesseln der Arbeit befreit, fühlte sich so leicht an wie ein Wolkenstreifen, und die Ringelblumen, der schillernde Fluss und der Sonnenschein bauten eine goldene Welt um sie auf, eine Welt, auf die keine noch so trübe Zukunft ihre Schatten werfen konnte.
Von weitem erspähte Rahma ihren Bruder. Er wollte gerade ein Pärchen übermütiger Zicklein einfangen, das auf ein Feld mit jungem Weizen zulief. Der Frühling machte die Tiere ganz wild, und sie rannten in alle Richtungen außer der richtigen, blökten dabei quietschvergnügt und sprangen hoch in die Luft. Hamid, ihr Hüter, nahm es ihnen nicht übel, war ihm doch ähnlich zumute. Dicht vor dem Feld stießen die drei aufeinander, und Rahma rannte mitten in sie hinein. Ihre dunklen Kirschenaugen strahlten, und das glatte, schwarze Haar hing ihr in wilden Strähnen um Gesicht und Nacken.
Lachend und schreiend lenkten sie die Zicklein auf die Weide hinaus, wo die übrige Herde graste. Hier wandte sich Hamid seiner Schwester zu und musterte sie erstaunt. Er war es nicht gewohnt, sie so fröhlich und guter Dinge zu sehen; denn Landmädchen lernen früh, ruhig und bedächtig einherzuschreiten und immer auf die älteren, erfahreneren Menschen zu hören. Außerdem war Rahma schon sieben Jahre alt und beinahe eine »kleine Frau«!
»Warum bist du gekommen?«, fragte Hamid.
»Um die Ziegen zu hüten. Die Mutter braucht dich.«
»Weshalb?«
»Ich weiß es nicht. Du sollst irgendwohin gehen. Sie hat geweint und dabei das Schwesterchen angeschaut. Vielleicht ist es krank.«
Das Leuchten in ihren Augen erlosch, als sie an die Tränen ihrer heiß geliebten Mutter dachte. Einzig der Sonnenschein und die Freiheit hatten den Gedanken an die Mutter in den Hintergrund treten lassen. Doch die Mutter weinte neuerdings oft, wenn sie mit Rahma allein war, sodass das Kind sich beinahe daran gewöhnt hatte.
»Gut«, sagte Hamid, »aber pass mir auf die Ziegen auf! Da hast du einen Stock.«
Und damit ging er in Richtung Dorf weg. Er beeilte sich, denn er wollte seine Mutter nicht warten lassen. Aber er sprang nicht und schaute nicht um sich, wie Rahma es getan hatte. Zu viele Fragen waren in ihm erwacht!
Warum sah seine Mutter seit einiger Zeit so besorgt aus, als laste eine geheime Furcht auf