Der Kloß im Hals
Der Zug ratterte im gleichmäßig eintönigen Takt. Die Landschaft Mittelenglands raste am Fenster vorbei. Die Luft im Wagen war warm und dick und mit den verschiedensten Gerüchen der vielen anderen Reisenden durchsetzt.
Meine Mutter hatte mich einer Dame anbefohlen, die von London nach Irland fuhr. Aber ich war nicht gerade ein liebenswürdiges Kind – nach der scheußlichen Verabschiedungszeremonie von vorhin erst recht nicht – und schenkte ihr keine Aufmerksamkeit, sodass auch sie mich bald nicht mehr beachtete.
Ich kuschelte mich in die Ecke meiner Sitzbank und las in meinen Comic-Heften, die mir meine Mutter kurz vor der Abfahrt auf dem Bahnhof am Kiosk gekauft hatte. Von Zeit zu Zeit steckte ich mir ein Gummibärchen in den Mund und schaute zum Fenster hinaus. Kilometerweit konnte ich nichts als nasse, gelbliche Felder und kahle, dunkle Hecken und Bäume erblicken, hinter denen die Ferne sich im Nebel verlor. Alles sah so kalt und schmutzig, einsam und hässlich aus, dass ich es bald satt hatte hinauszuschauen.
Stattdessen gingen meine Gedanken spazieren. Erst vor drei Tagen hatte mich meine Mutter vor die Tatsache gestellt, dass ich zum Schulbeginn nach den Winterferien aufs Land fahren müsse. Sie hätte eine interessante Arbeit im Ausland erhalten und könne sich so einen lang ersehnten Wunsch erfüllen. Leider könne sie mich nicht mitnehmen.
Meine Mutter war dabei gewesen, meine Haare zu frisieren, als sie mir diese Neuigkeit an den Kopf geworfen hatte. Noch jetzt konnte ich meinen verdutzten Gesichtsausdruck im Frisierspiegel sehen. Mit einem Lächeln im Gesicht versuchte sie mir zu erklären, dass sie eine nette Familie für mich gefunden hätte: Eine frühere Schulfreundin würde mich liebend gern in ihre Familie aufnehmen. Sie hätte selber sechs Kinder. Janet wäre nur ein paar Monate jünger als ich. Mit ihr zusammen könnte ich die Schule besuchen.
Die Gedanken an diese letzten drei Tage schwirrten mir durch den Kopf, während die Räder der Eisenbahn gleichmäßig stampften. In meinem Hals saß ein dicker Kloß. Würde ich – verwöhnt als Einzelkind, eitel und meist sehr egoistisch, wie mir Frau Moody, unsere Haushälterin, oft gesagt hatte – würde ich es je aushalten bei einer Familie? Würde ich die Stadt London, mein schön eingerichtetes Zimmer und Frau Moody nicht schrecklich vermissen? Könnte ich je wieder glücklich werden?
Die Landschaft veränderte sich kaum. Hässlich und einsam sah sie aus – genauso, wie ich mich fühlte. Es gab aber kein Zurück mehr. So fügte ich mich in mein Schicksal, kuschelte mich noch tiefer in die Ecke meiner Sitzbank und schlief fest ein.
Hätte mich die gute Dame nicht geweckt, ich hätte den Zeitpunkt des Aussteigens glatt verschlafen. So aber stolperte ich mit meinem großen Koffer aus dem Wagen und blieb abwartend, noch ganz schläfrig und verwirrt, auf dem Bahnsteig stehen. Der Zug fuhr sofort weiter. Das Erste, was mir hier – nach der Großstadt London – auffiel, war die Stille: kein Verkehr, kein Getrampel von tausend Füßen – nur das gedämpfte Rauschen des Meeres jenseits der Bahnhofshalle und das weiche Rieseln von Wellen über Kieselsteine. Ich schnupperte. Die Luft roch salzig und frisch.
In diesem Augenblick sah ich eine Frau auf mich zueilen, so schnell, wie drei kleine Kinder, die an ihren Händen und an ihrem Mantel hingen, es ihr erlaubten. Sie hatten am anderen Ende des Bahnsteigs gewartet. Ich nahm an, dass das die Mortons sein müssten. Ich ging ihnen nicht entgegen, sondern blieb ruhig bei meinem Koffer stehen. Dann streckte ich meine behandschuhte Hand aus und sagte in dem kühlen, unverbindlichen Gesellschaftston meiner Mutter, mit dem sie Leute begrüßte, die ihr unsympathisch waren: »Guten Tag, Frau Morton!«
Sie war sichtlich überrascht, und im trüben Licht jenes Februarnachmittags wechselten wir stumm einen abwägenden Blick. Dann huschte eine Bewegung über ihr Gesicht, die ich nicht zu deuten wusste: Wollte sie lachen oder weinen? Jedenfalls schob sie meine