: Ewald Arenz
: Ein Lied über der Stadt
: ars vivendi
: 9783869132501
: 1
: CHF 8.00
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 317
: DRM/Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: PDF/ePUB
Eine Kleinstadt im Sommer 1929. Die Pfarrerstochter Luise Anding kennt keine größere Sehnsucht als das Fliegen. Obwohl es in diesen Jahren für ein Mädchen alles andere als einfach ist, Pilotin zu werden, gelingt es Luise, ihren Traum gegen alle Widerstände zu verwirklichen. Sie verlässt die Stadt und wird eine gefeierte Kunstfliegerin. Als sie jedoch Jahre später die Fliegerei als Beruf aufgeben muss und die Gestapo ihren Vater bedroht, kehrt sie in ihren Heimatort zurück. Vieles hat sich hier verändert. Die politische Lage spitzt sich zu, ihre Familie, aber auch Georg, der beste Freund aus Jugendzeiten und nun im Widerstand aktiv, geraten zunehmend in Gefahr. So kommt der Tag, an dem Luises Liebe und ihr fliegerisches Können auf die Probe gestellt werden ... Ein Roman, dessen zarte Poesie verzaubert und der die bittersüße Melodie der Sehnsucht singt.

Ewald Arenz, geboren 1965 in Nürnberg, studierte Geschichte, amerikanische und englische Philologie. Im ars vivendi verlag erschienen seine erfolgreichen Romane Der Teezauberer (2002), Die Erfindung des Gustav Lichtenberg (2004), Der Duft von Schokolade (2007), Ehrlich und Söhne (2009) und Das Diamantenmädchen (2011) sowie mehrere Bände mit humorvollen Kurzgeschichten. Für sein literarisches Werk wurde er u.a. 2004 mit dem Bayerischen Staatsförderpreis ausgezeichnet.

 

1

Wenn Luana im Sommer sang, hielt das kleine fränkische Städtchen den Atem an. Sie saß auf der Terrasse des Pfarrhauses, hatte ihre amerikanische Gitarre auf dem Schoß und sang selbstvergessen die fremden Lieder aus ihrer Heimat. Unten auf der sonnenheißen Gasse, die an der weiß gekalkten Mauer des Pfarrgartens entlang verlief, zügelten die heimkehrenden Bauern die Gespanne, und ihre Pferde zogen die Heuwagen im langsamsten Schritt. Der dicke Apotheker stieg vom Rad und hörte eine Weile zu, ohne zu merken, dass ihm die Zigarre ausging. In den Armenwohnungen, die auf der anderen Seite des Stadtgrabens lagen, verebbte das Geschrei; in den Fenstern erschienen die Köpfe der früh ergrauten Frauen, die mit ihren verarbeiteten Händen blau gemusterte Kissen auf die Fensterbank legten und sich für eine Viertelstunde forttragen ließen. Es war ein Klang in diesen Liedern, den keiner von ihnen hätte benennen können, eine lockende Fremdheit, die nach mehr duftete als die Sommergerüche ihrer kleinen Stadt. Etwas unsagbar Schönes lag in Luanas Liedern; es war, als würfe sie Töne wie fein glitzernde Fäden in die Spätnachmittagsluft; Fäden, die einem unmerklich an der Brust anhingen, in der Nähe des Herzens, und, später am Abend, wenn alles schon vorbei war und die Stadt still wurde, leicht und süß an einem zu ziehen begannen, ohne dass man gewusst hätte, wohin.

 

Wenn Luana im Sommer sang, unterbrach Luise alles, was sie tat, und kam in den Garten, um ihr zuzuhören. Meistens setzte sie sich ins Gras, den Rücken an den großen Walnussbaum gelehnt, wo Luana sie nicht sehen konnte. Immer hatte Luise das Gefühl, dass sie vielleicht aufhören würde zu singen, wenn jemand zwischen ihre Augen und die Ferne träte, in die sie in diesen Viertelstunden wohl sah.

»Wovon singst du?«, hatte Luise Luana manchmal gefragt, wenn sie später zu ihr auf die Terrasse getreten war.

Luana hatte dann lächelnd die Schultern gehoben und gesagt: »Ach, von allem. Von den Bergen. Vom Urwald. Und vom Meer.«

»Wie ist das Meer?«, hatte Luise dann wohl gefragt.

Luana hatte lächelnd geantwortet: »Wie soll ich das beschreiben? Du musst es selbst sehen. Das Meer kann man nicht erklären.«

»Doch«, hatte Luise bestimmt gesagt, »versuch’s mal.«

Luana hatte die Gitarre vorsichtig in die Ecke des Balkons gestellt und ein bisschen überlegt. Ein Nachmittagswind war aufgekommen. Auf den Feldern wogte der Weizen noch jung und grün in der Junisonne, und sein warmer, durchsichtiger Duft wehte durch die Gassen des Städtchens. Luana schloss für einen Moment die Augen und legte den Kopf an die Rückenlehne des Deckchairs, den sie genauso wie ihre weißen Kleider aus Brasilien mitgebracht hatte, als sie mit Paul vor drei Jahren zurück ins Reich gekommen war. Dann öffnete sie die Augen wieder und sah in den makellos blauen Himmel.

»So«, sagte sie dann und deutete nach oben, »das Meer ist wie der Himmel, nur auf der Erde.«

Luise sah auch nach oben. »Der Himmel hat aber kein Ende.«

Luana überlegte kurz, dann nickte sie. »Das stimmt. Das Meer sieht unendlich groß aus, aber irgendwo gibt es immer ein anderes Ufer. Das ist das Schöne daran, nicht wahr?«

Da schüttelte Luise entschieden den Kopf. Ihre kurzen braunen Locken flogen. »Das Schöne am Himmel ist, dass er kein Ende hat.«

Luana hatte wieder nach ihrer Gitarre gegriffen. »Das würde mir Angst machen«, sagte sie, während sie leise stimmte, »wenn etwas kein Ende hat.«

Luise staunte. »Aber warum singst du dann immer von der Unendlichkeit?«, fragte sie.

Luana wandte sich Luise zu. Luise dachte, dass ihr fremdes Gesicht in dem weichen Nachmittagsl

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