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»Jetzt schieß! SCHIESS! Du sollst schießen, verdammt!«
Paul Flemming brüllte aus Leibeskräften, und es hielt ihn kaum auf seinem Platz. Die Leidenschaft, die ihn gepackt hatte wie ein plötzlich auftretendes Sommergewitter, teilte er mit über 40.000 anderen Besuchern des Nürnberger Stadions. Einer war noch enthusiastischer bei der Sache als Paul und verfolgte das Geschehen mit hochrotem Kopf und wippenden Knien: sein Vater Hermann.
Hermann besaß eine Dauerkarte und war bis vor Kurzem mit dem eigenen Wagen zu den Spielen gekommen. Doch die Fahrerei fiel ihm zusehends schwerer, und mangels einer vernünftigen ÖPNV-Anbindung zwischen Herzogenaurach und Nürnberg musste nun ab und zu Paul ran, um den Chauffeur zu geben. Heute inklusive Begleitung ins Stadion, wo Vater und Sohn sich die Partie des 1. FC Nürnberg gegen Hannover 96 ansahen.
Ein Spiel ungleicher Gegner, wie Paul meinte, der die kritischen Mienen seiner Nachbarn bemerkte und die sich rapide verschlechternde Stimmung im Fanblock spürte: Die Hannoveraner führten schon seit der vierten Minute mit 1:0. Von Anfang an hatten sie sich überlegen gezeigt, konnten blitzschnell das Mittelfeld überbrücken und tauchten immer wieder im Nürnberger Strafraum auf. Dank seines herausragenden Keepers konnte der Club dem heranstürmenden Kontrahenten trotzen, doch es war nur eine Frage der Zeit, bis die Gäste ihre spielerischen Vorteile in ein zweites Tor umwandeln würden.
»Was veranstalten diese Deppen da eigentlich?«, zürnte Hermann, der glühende Club-Fan, über sein Team. »Fehlt nur noch, dass sie über ihre eigenen Füße stolpern.«
»Ja, ein ziemliches Gestöpsel«, stimmte Paul ihm zu. »Wir haben den Hannoveranern nicht viel entgegenzusetzen.«
»Ein Jammer. Ausgerechnet gegen diese Flachländer zu verlieren, das wäre eine Schande. Wozu trainieren die denn die ganze Woche, wenn sie dann nicht mehr Leistung zeigen als die F-Jugend?«
Wie auf dem Feld dominierten auch auf den Zuschauerrängen die Fans von 96 das Geschehen: Obwohl deutlich in der Minderheit, zog der gegnerische Block eine wilde Show ab mit La-Ola-Wellen, Pfeifkonzert und Gesang für die »Roten«, wie die Hannoveraner wegen ihrer traditionellen Trikotfarbe genannt wurden. In den wenigen Momenten, in denen sich der Club den Ball erobern konnte, pfiffen die niedersächsischen Fans die Gastgeber gnadenlos nieder.
»Schlaft nicht ein!«, rief Hermann durch seine zum Trichter geformten Hände. »Zeigt, was ihr draufhabt!«
»Ran! Geht endlich ran!«, feuerte auch Paul die Nürnberger Elf an, in der Hoffnung, die anderen Zuschauer in seiner Reihe aus ihrer Lethargie zu reißen. Ihren Gesichtsausdrücken nach zu urteilen, hatten die meisten von ihnen nämlich schon resigniert.
Leider zu Recht, wie Paul gleich darauf erfahren musste: In einer kaum gebrems