: Mela Hartwig
: Inferno Roman
: Droschl, M
: 9783990590249
: 1
: CHF 15.30
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 216
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Wien 1938: Der Anschluss Österreichs steht kurz bevor. Es ist die Zeit der Pogrome, der Opportunisten, Denunzianten und überzeugten Nazis. In dieser Welt des Umbruchs muss sich die 18-jährige Ursula zurechtfinden und entscheiden, ob sie Teil des aufkommenden Schreckenssystems wird oder Widerstand leistet. Nirgends kann man mehr sicher sein, denn »in Zukunft werden alle Wände Ohren haben und hinter jeder Tür wird einer horchen«. Ursulas Bruder versucht die Familie für die Nationalsozialisten zu gewinnen, in ihrer Malerschule haben parteitreue Dozenten das Sagen. Nur ihr Freund scheint ein Hoffnungsschimmer in diesen Zeiten zu sein, in denen nicht nur Ursulas Leben durch all die Bedrohungen zu zerfallen droht. Die atemlose Prosa spiegelt Ursulas innere Zerrissenheit, Verzweiflung und existenziellen Ängste. Zwischen 1946 und 1948 verfasste Mela Hartwig in ihrem Londoner Exil den Roman 'Inferno', der nun 70 Jahre später zum ersten Mal erscheint. Es ist bemerkenswert, wie scharfsinnig sich Hartwig unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg mit der NS-Zeit auseinandergesetzt hat.

Mela Hartwig, geboren 1893 in Wien, war Schauspielerin, Malerin und Autorin. Nach den Veröffentlichungen des Novellenbands 'Ekstasen' (1928) und des Romans 'Das Weib ist ein Nichts' (1929) hatte sie Schwierigkeiten, als Jüdin von einem Verlag angenommen zu werden. 1938 emigrierte sie mit ihrem Ehemann Robert Spira nach England, wo sie in den Jahren 1946 bis 1948 den Roman 'Inferno' schrieb, der zu Lebzeiten nie veröffentlicht wurde. 1967 starb sie in London. Bei Droschl wurden 'Bin ich ein überflüssiger Mensch?' (2001), 'Das Weib ist ein Nichts' (2002) und 'Das Verbrechen' (2004) publiziert.

Straßen

Ziellos schlenderte Ursula durch die Straßen. Ihr Ziel war die Straße selbst. Irgendeine. Sie hatte herausgefunden, daß jede ein Ausschnitt aus der Vielfalt des Lebens ist, das Fragment einer Wirklichkeit, die sich geheimnisvoll hinter undurchsichtigen Mauern vor unserer Neugierde verbirgt, unserer Phantasie jedoch keine Schranken setzt, wenn sie versucht, ein verhängtes Fenster, ein vorüberhuschendes Lächeln zu Vermutungen, Möglichkeiten, Wahrscheinlichkeiten auszuspinnen, weil sie sich ihr niemals enthüllt und sie daher niemals widerlegt.

Von der Fassade der Häuser ließen sich Schicksale ablesen, die sich hinter den Mauern abspielten, wie man aus dem Ausdruck eines Gesichts auf die Stimmung schließen kann, die das Zusammenspiel seiner Züge bestimmt, und einem Mosaik vergleichbar setzten sich Häuser und Schicksale zur Straße zusammen, verwirrende Einzelheiten zu einer Idee der Gemeinschaft verflochten, die unaufhaltsame Bewegung der Zeit in die beruhigte Unbewegtheit von Mauern gebannt, der unendliche Raum zwischen Wänden eingefangen, wie ein wildes Tier, das man in einen Käfig sperrt, um es unschädlich zu machen.

Die Häuser in den stillen Seitenstraßen, schmucklose, zumeist dreistöckige Häuser, die bescheiden hinter winzige Vorgärten zurücktraten oder häufig, anspruchsloser noch, auf das bißchen graue Grün verzichteten und kahl den Gehsteig säumten, ließen erraten, daß hinter ihren bescheidenen Fassaden, farblos wie Federzeichnungen, ein Tag wie der andere eintönig verging, daß sie Menschen Obdach gewährten, die niemals mehr als ein Existenzminimum an Glück vom Leben verlangt und niemals mehr erhalten hatten, deren laue Herzen niemals von den Versuchungen heimgesucht wurden, mit denen Leidenschaft Herzen bedrängt, die niemals über Eitelkeiten straucheln, sich niemals in den Schlingen verstricken, die Ehrgeiz legt, die sich kaum je auch nur zu einem Wunsch versteigen, den eine magere Börse nicht erfüllen kann und die mit ihrem Los zufrieden sind, weil sie mit sich selbst zufrieden sind. An Blumentöpfen vorbei, die da und dort einen Fenstersims schmückten, an verblichenen Vorhängen aus billigem geblumtem oder gestreiftem Zeug vorbei, erlaubte zuweilen ein Fenster einem Blick, in eine der engen Stuben einzudringen, in der sich ängstlich behütete Möbel drängten, Lehnstühle und Sofa von Überzügen beschützt, erlaubte ihm über die Familienphotographien zu gleiten, die in gestanzten Rahmen steckten, die Silber vortäuschten, über Figuren aus Gips, aus billigem, farbig glasiertem Porzellan, zuweilen aus Bronze, in denen sich eine erschreckende Realität phantastisch mit Unnatur mischte, über einen Öldruck, der eine Wand schmückte, ein Hirschgeweih, über einen Vogelbauer, hinter dessen Stäben ein gelber Schimmer hin und her hüpfte, über eine Uhr, die zuweilen eine Glasglocke schützte und die der Spiegel, der ihren Hintergrund abgab, verdoppelte. Aber hinter diesem friedlichen Bild, das sich dem Blick des Vorübergehenden darbot, konnte Ursula erblicken, was Augen nicht sehen konnten, die bedrückende, die beklemmende Genügsamkeit, die sich in diesen Stuben eingenistet hatte und die, einem stehenden Wasser vergleichbar, das eine Brutstätte aller Keime ist, die Fäulnis nährt, eine Brutstätte jener furchtbaren, jener grauenhaften Zufriedenheit ist, die jede Energie, jedes Gefühl, jeden Wunsch, jeden Traum, aus denen Zukunft gesponnen wird, erstickt, die nur ein Heute ist, ein gespenstisches Heute, dem niemals ein Morgen folgt.

Die Häuser der Vorstadtstraßen, verwahrloste Zinskasernen, deren Fassaden Risse und Sprünge bedeckten, die Narben und Wunden der Not, deren Mauerwerk vergrindet war, wie Aussätzige es sind, deren klaffend geöffnete Tore den üblen Atem ausstießen, zu dem sich die Ausdünstung zusammengepferchter Menschen, Speisengerüche aus unzähligen Küchen, der ungesunde Dunst, der aus den Bett