: Monika Feth
: Examen
: Rowohlt Verlag Gmbh
: 9783688111671
: 1
: CHF 10.00
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 158
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
«Nachdem wir ausschließlich über die unerträglichen Leute geredet haben, die sich dem Leistungszwang beugen, nachdem wir uns über dieses Problem bis zur Empörung erhitzt haben, verabschiedet er sich, weil er Magenschmerzen vor Gewissensbissen hat, drei Stunden lang nicht an seinem Schreibtisch gesessen zu haben.» Vor einer Prüfung zu stehen heißt, sich in einer Ausnahmesituation zu befinden. Monika Feth gelingt es, in erzählten Momentaufnahmen jene gefährlich hellsichtige, erkenntnisträchtige Empfindsamkeit zu erfassen, die fast jeder einmal erlebt - und hastig wieder ablegt, zusammen mit der Prüfung.

Monika Feth, 1951 in Hagen geboren, hat in Bonn Germanistik und Anglistik studiert und im Feuilleton einer Tageszeitung gearbeitet. «Examen» war ihre erste Buchveröffentlichung.

Oktober


Ich lebe in einer Ausnahmesituation. Jeder sagt das von sich. Was daran liegen mag, daß es andere Situationen überhaupt nicht gibt.

 

Nach Tagen des vollkommenen Alleinseins kein Gespür mehr für die Gegenstände, geschwächte Wahrnehmungskraft, Scheu vor Gesprächen, Angst, dem Gegenüber in die Augen zu sehen.

 

Und Stunde um Stunde gleitet mir, während ich über den Büchern sitze, der Maßstab für die Dinge ein Stück weiter aus den Händen.

 

Traumblütler nachts. Die Arbeit, die Phantasien tötet, setzt neue Phantasien frei. Nicht, solange der Tag dauert. Da schale ich mich in den Prüfungsvorbereitungen ein, die mich in Atem halten. Aber in den Nächten, die ohne Bewußtsein sind. Da fallen die Schranken, die sich tagsüber aufrichten, zu Boden, und ich erlebe alles, was erlebbar ist. Ich muß aufpassen, daß ich mich nicht darauf einlasse, ein nächtliches Ersatzleben zu führen.

 

Morgen kommt M., der für einige Tage bei Freunden zu Besuch gewesen ist, zurück. Damit wird die gefährliche Versuchung aufhören, der Arbeitswut nachzugeben.

 

Ich bemerke an mir eine verstärkte Tendenz, mich an Vergangenes zu erinnern, möglicherweise, um die Gegenwart wirklicher zu machen. Es fallen mir Begebenheiten ein, oft Kleinigkeiten, an die ich jahrelang nicht gedacht habe, und sie befallen mich mit einer Deutlichkeit, als sei es vorgestern gewesen, daß ich sie erlebte. Das einzige Bild, das ich von Onkel K. besitze, habe ich auf meinen Schreibtisch gestellt, sozusagen meine Vor-Vergangenheit. Als hielte ich mich am Damals fest, um erwachsen sein zu können.

 

In der Stadt habe ich einen Bekannten getroffen, der vor kurzem Examen gemacht hat. Er erzählte mir, immer noch aufgebracht, man habe ihm in der mündlichen Prüfung die Frage gestellt, welches Kleistsche Drama denn wohl mit dem Wortach ende. Einen Freund von ihm habe man aufgefordert, die Werke Schillers in chronologischer Reihenfolge zu nennen. Bei einer anderen Prüfung habe der Prüfer eine Literaturgeschichte aufgeschlagen und, mit dem Zeigefinger wahllos über den Seiten kreisend und schließlich auf einen gefundenen Punkt stechend, ausführliche Stichproben durch die Jahrhunderte gemacht. In dieser Art und Weise seien alle Prüfungen abgehalten worden, von denen er gehört habe. Und soundsoviele (ich habe die Zahl, die er nannte, vergessen, aber es war eine sehr hohe) seien durchgefallen, weil sie mit diesen Fragestellungen nichts anzufangen gewußt hätten.

 

Das kann nicht sein. Vielleicht redet er nur deshalb so, weil er schlecht abgeschnitten hat. Er erwähnte allerdings auch den Vorfall mit dem Mathematikstudenten, der im Verlauf seiner Prüfung den Beisitzer gefragt haben soll, ob er sich in einem Quiz oder im Examen befinde, und das hatte ich schon von mehreren Seiten gehört.

 

Ich erf