12. Juni 1935
Ich bekomme einmal eine Glatze. Mit zwanzig Jahren habe ich wenigstens diese Gewissheit. Vor dem Philosophieunterricht bei Jean Grenier im Gymnasium von Algier: zur Täuschung die wenigen Haare auf die Seite kämmen. Dieser Lehrer ist unglaublich. Er unterrichtet nicht, er erzählt. Wenn er zu reden anfängt, wissen wir nie, worauf wir uns einstellen sollen. Er denkt unsere Gedanken mit, er zwingt uns, unsere Überlegungen so weit wie nur möglich auszudehnen. Als wir ihn einmal über sein letztes Werk befragten, hat er sich Streifzüge zu den verschiedenen darin erwähnten Inseln ausgedacht. Meine Jahre in der Jesuitenschule (diesem Konzentrationslager!) liegen lange, sehr lange zurück.
23. Juli 1935
Wieder in Algier nach einem kurzen Paris-Aufenthalt. Diskussion mit meinem Vater spätabends in der Küche. Ich erzählte ihm von meiner tiefen Bewunderung für Adrienne Monnier, deren aussergewöhnliche LeihbibliothekLa Maison des amis des livres in der Rue de l’Odéon 7 ich besuchen konnte. Aberhunderte von Bänden. Alles kann man dort finden! Und welch eine aussergewöhnliche Frau, diese Madame Monnier … Sie hat mir anvertraut, dass sie mit nur ein paar tausend Franc angefangen hat. Das Gleiche sollte man in Algerien machen. Mein Vater ist einverstanden, aber in kleinerem Massstab, meint er. Ja, kleiner, aber trotzdem in diesem Geist. Das heisst eine Buchhandlung, die Neues und Altes verkauft, die Werke ausleiht und die nicht einfach ein Laden wäre, sondern ein Ort der Begegnung und Lektüre. Gleichsam ein Ort der Freundschaft und zusätzlich mit einem Bezug zum Mittelmeerraum: Schriftsteller und Leser aus allen Mittelmeerländern ohne Unterschied in Sprache oder Religion sollen kommen, die Leute von hier, von dieser Erde, diesem Meer, und sich vor allem den Algerianisten widersetzen. Etwas ganz anderes machen!
18. September 1935
Grossvater Joseph aus Ghardaia zurück. Beim Abendessen erzählte er mir, wie er sich Kamele für seinen Wüstenritt gemietet und einen Löwen- und Pantherjäger zum Schutz vor möglichen Räubern dabeihatte. Ein merkwürdiger Mann, der für seinen Beruf als Händler lebt und mehr erfindet als beschreibt. Grossmutter schüttelte verärg