: Anna Goldenberg
: Versteckte Jahre Der Mann, der meinen Großvater rettete
: Paul Zsolnay Verlag
: 9783552059207
: 1
: CHF 7.30
:
: Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
: German
: 192
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Wien-Leopoldstadt, September 1942: Hansis Eltern und sein jüngerer Bruder müssen ins Sammellager, um nach Theresienstadt umgesiedelt zu werden. Gleichzeitig verlässt der 17-jährige Hansi das Haus. Im Flur nimmt er den gelben Stern ab, steigt in die Straßenbahn und fährt zum Kinderarzt Josef Feldner. Seine Familie wird Hansi nie mehr wiedersehen. Bis zum Ende des Krieges versteckt und versorgt 'Pepi' den jungen Mann in seiner Wohnung. Auch später bleibt Hansi mit seinem Retter verbunden, sie frühstücken täglich miteinander, fahren gemeinsam auf Urlaub. Hans' Enkelin, Anna Goldenberg, die Enkelin von Hans und Helga Feldner-Bustin, rekonstruiert diese singuläre Familiengeschichte als große Reportage und als Porträt eines Helden, der nie einer sein wollte.

Anna Goldenberg, geboren 1989 in Wien, studierte Psychologie an der Universität von Cambridge sowie Journalismus an der Columbia University und war anschließend Redakteurin der Wochenzeitung Jewish Daily Forward in New York. Zur Zeit lebt sie wieder in Wien und schreibt u.a. für den Falter. Versteckte Jahre ist ihr erstes Buch.

 

 

DIE AUFZEICHNUNGEN MEINES GROSSVATERS

 

Über seine Kindheit erfahre ich bei Hansi wenig. Hauptsächlich beschreibt er seine jugendlichen Missetaten, denn die Schule interessierte Hansi kaum. 1931, mit knapp sechs Jahren, war er in die Volksschule in der Kleinen Sperlgasse im zweiten Wiener Bezirk gekommen. Von Anfang an schlechte Noten. Es war nicht die mangelnde Intelligenz, klagten die Lehrer, sondern Trotz und Unwillen, sich Autoritäten zu beugen. Fühlte er sich angegriffen, wurde er schnell wütend. Er wollte seine Freiheit zum Fußballspielen, um über Zäune zu klettern und die schmalen Seitengassen, versteckten Hinterhöfe und den Prater zu erkunden. Einer seiner Streifzüge führte ihn in das Kinderfreibad am Franz-Josefs-Kai, allerdings zu einer Tageszeit, zu der es geschlossen war. Hansi landete vor dem Jugendgericht und kam ohne Strafe davon. Ein anderes Mal wurde er beim unerlaubten Kicken im Park erwischt und auf der Polizeistation den Eltern übergeben.

Sein Verhalten, betont Hansi, sei keine Rebellion gegen die Eltern gewesen. Grenzen auszutesten verlockte ihn einfach. Er wusste, die Familie würde ihm nie den Zusammenhalt und die Liebe entziehen: »Sie haben geschimpft und gedonnert, aber sie waren immer verlässlich für uns da, und wir wussten immer, dass für uns familiäre Sicherheitsnetze gespannt waren.«

Hansis Eltern Rosa und Moritz Bustin führten ein Möbelgeschäft auf der Margaretenstraße im fünften Bezirk. Rosa hatte es als Mitgift in die Ehe gebracht. Den täglichen Betrieb regelte Moritz, der aus einer deutschsprachigen Familie im mährischen Uherský Brod stammte und nach dem Ersten Weltkrieg, in dem er an die Front musste, nach Wien gezogen war. Wie sich seine Eltern kennenlernten, geht aus Hansis Unterlagen nicht hervor. Als Hansi am 18. Oktober 1925 auf die Welt kam, waren Rosa und Moritz bereits zwei Jahre lang verheiratet. Im Jänner 1928 bekamen sie ein zweites Kind, Herbert.

 

 

Hansi und seine Eltern Moritz und Rosa Bustin, zirka1930

 

Hansi beschreibt seinen Vater als charmant, ausgeglichen und heiter. Er trug seinen Schnurrbart stets sorgsam gepflegt. Von ihm hat Hansi nicht nur das schmale Gesicht, die schwarzen Haare und Augen und den südländisch anmutenden, olivfarbenen Hautton, sondern auch die Freude am Handwerk geerbt. Die Arbeit im Geschäft machte meinem Urgroßvater Spaß, er war geschickt und reparierte viel selbst. Zu Moritz’ Leidenschaften zählten Fußball und Fotografieren. Er dokumentierte die Familienausflüge in den Wienerwald, die Sommerfrische in Bad Vöslau, die beiden Söhne beim Spielen im Hof. Hansi nahm er manchmal zu Fußball-Länderspielen mit.

Meine Urgroßmutter, Rosa, war intelligent und interessiert, las Bücher und ging in Konzerte. Es gab Zeiten, in denen sie wenig sprach und in sich gekehrt schien, nachdenklich und ein wenig traurig. »Meine Mutter war das Gehirn der Familie«, schreibt Hansi. »Die Fronten waren vollkommen klar.« War es eine glückliche Ehe? Während der Sommerurlaube sei der Vater öfters nicht dabei gewesen, notiert Hansi. Er gab vor, sich um das Geschäft kümmern zu müssen, tatsächlich soll er Affären gehabt haben. Das erfuhr Hansi viele Jahre später von entfernten Verwandten. Stimmt es? Darüber gibt es keine Gewissheit.

Die Stimmung zuhause war jedenfalls harmonisch, erzählt Hansi, vor seinem Bruder und ihm stritten die Eltern nicht. Er vermutet, dass seine Mutter von den Fehltritten ihres Ehemanns nie erfuhr, sicher ist er sich aber nicht: »Als Kind kennt man seine Eltern nicht«,