ERSTES KAPITEL
AUF DEM WEG
UNTERWEGS ZU EINEM LEBENSANFANG
Anfänge in Pöchlarn im Mostviertel am südlichen Ufer der Donau. Der Ort, wo Oskar Kokoschka am 1. März 1886 geboren wurde, blieb ihm wichtig, und das noch oder wieder im Jahre 1936: »Meine Wiege stand […] im Bechelaren der Nibelungen, die bekanntlich den Rheinschatz, den goldenen hüteten. Als ich geboren wurde, allerdings, befanden sich im Staatssafe bloß devalvierte Guldenzettel, deshalb lernte ich schon früh selbständig zu sein und für meinen Lebensunterhalt zu arbeiten.« (DSW III, 251) Ein klassischer Kokoschka-Satz, wie er auf die geschichtlich-mythische Vergangenheit anspielt, sie leicht travestiert, mit zeitgenössischen Problemen verknüpft (die relative Geldentwertung im Anschluss an die Finanzkrise der siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts mit dem Verlust der staatlichen Goldreserven) und ins Persönliche wendet. Gemeint ist die 26. und 27. Aventiure aus demNibelungenlied, in dem die aus Worms kommenden Nibelungenkönige mit ihrem Gefolge am Hof des Markgrafen Rüdiger als Gäste empfangen werden. Dieser wird mit den Nibelungen weiter nach Wien ziehen, wo Kriemhild mit dem Hunnenkönig Etzel sich vermählen wird, um dann in Gran (heute: Esztergom) mit ihnen unterzugehen. Pöchlarn, das kleine ritterlich-mythische Idyll vor der Katastrophe. In Reichweite befindet sich übrigens Schloss Artstetten mit der Gruft des Erzherzogs Franz Ferdinand und seiner Gemahlin, der Opfer von Sarajevo, dessen Banausentum in Sachen Kunst wiederum der junge Kokoschka beinahe zum Opfer gefallen wäre. Doch davon später.
Nur sein erstes Lebensjahr verbrachte Oskar K. in Pöchlarn, in der Regensburger Straße 29, doch eben Zeit genug, um den Geburtsort später zu mythisieren – und das noch und besonders in den späten Fernsehinterviews im unverfälschten, deutlich bäuerischen Zungenschlag seiner Heimatregion. Der Vater, aus einer Prager Familie mit langer Tradition im Goldschmiedekunstgewerbe stammend, Gustav Josef Kokoschka (1840–1923), war als Handelsreisender für Uhren bei einem örtlichen Juwelier angestellt. Nach Prag dürfte die Provinzialität Pöchlarns für ihn ein Problem gewesen sein. Vermutlich befand sich die Familie in Wartestellung, bis sich etwas beruflich Günstigeres für Gustav in Wien ergeben würde, der sich, bedenkt man seine Familientradition, im sozialen Abstieg befand. Genaueres lässt sich dazu jedoch nicht sagen, nur das, was Kokoschka in seiner Autobiografie darüber bemerkt. (ML, 39f.) Das Erfreulichste, was Oskar K. später über seinen Vater zu berichten weiß, steht in einem Brief an die Mutter vom 27. Juli 1918, als dieser den rekonvaleszierenden Sohn in Dresden besucht: »Ich bewundere [Vaters] geistige Frische und sein lebendiges Interesse an allem und sein Gedächtnis. Er ist mir lieber als Kamerad als alle meine Bekannten hier, weil er so menschlich ist.«1
Das Vaterhaus in der Prager Brentegasse »mit Werkstätte und Laden«, Oskar K. sollte es während seines ersten Besuchs in der Hauptstadt Böhmens ausfindig machen, war das eines wohlhabenden Patriziers. Sein Großvater, Václav Kokoska, Jahrgang 1810, kam als 26-jähriger Goldschmied in Prag an, er stammte aus dem Dorf Racineves, rund 65 Kilometer nordwestlich von Prag gelegen. In Prag heiratete er Therese Josefa Schütz, Tochter eines ansässigen Goldschmieds. Kokoschkas Vater, Gustav Josef, ging 1840 aus dieser Ehe hervor. Dass auch er zur Gilde der Goldschmiede gehören würde, stand wohl schon früh fest. Oskar Kokoschkas künftiger Schwiegervater, Kar