1. Kapitel: Liberale Familie im Fin de Siècle
»Papa gab mir die Freiheit der Gedanken, die Lust zur Wissenschaft, und hat mich ihr geschenkt.«7
In der Wiener Staatsoper steht Verdis »Aida« mit Anna d’Angeri in der Hauptrolle auf dem Programm, als keine zweieinhalb Kilometer entfernt Elise Meitner geboren wird.8 Es ist Sonntag, der 17. November 1878 – in Neapel überlebt an diesem Tag Italiens König Umberto I. ein Attentat, in New York hat in dieser Woche Thomas Alva Edison die Edison Electric Light Company gegründet, um seine Entwicklung der elektrischen Glühlampe zu finanzieren. In der Wiener Wohnung der liberalen jüdischen Familie Meitner in der Kaiser-Joseph-Straße 27, später Heinestraße 27, beginnt soeben das Leben einer künftigen Wissenschaftlerin von Weltrang.
Elise, die unter dem Namen Lise durchs Leben gehen wird, feiert ihren Geburtstag später zwar am 7. November und auch ihre amtlichen Dokumente werden dieses Datum tragen. Im Geburtenbuch der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) Wien ist aber der 17. 11. verzeichnet.9 Die Vermutung liegt nahe, dass die Ziffer 1 irgendwann in Lises Kindheit durch das Versehen eines Beamten abhandenkommt und sie so formal zehn Tage älter wird.
Ein »Tag der Namensertheilung« wird im Geburtenbuch nicht angegeben – Lises Eltern Hedwig und Philipp Meitner verzichten wohl auf die bei religiösen Juden für neugeborene Mädchen übliche Namensverlesung in der Synagoge, die