HILDE
Wiesbaden, 22. März 1935
Ganz sacht meldet sich der Frühling in der Stadt. Gelbe und violette Krokusse leuchten in den Wiesen des Kurparks, Narzissen strecken ihre lindgrünen Blättchen aus dem Boden. Jetzt, um die Mittagszeit, ist kaum Verkehr auf der breiten Wilhelmstraße, Spaziergänger schlendern an den Läden vorbei, einige Unerschrockene sitzen schon an den Tischen der Straßencafés und genießen den Vorfrühling bei einem Tässchen Kaffee.
»Kommste noch mit?«, fragt die zwölfjährige Hilde ihre Freundin.
Gisela bleibt stehen und zieht die Riemen des schweren Schulranzens nach vorn, weil sie ihr in die Schultern einschneiden. Einen Moment lang überlegt sie, dann schüttelt sie bekümmert den Kopf. »Nee, heute besser nicht. Mama will mit mir zur Schneiderin, ich krieg zwei neue Kleider genäht.«
»Hast du es gut«, seufzt Hilde. »Deine Mama hat immer Zeit für dich.«
»Phhh«, gibt Gisela mürrisch zurück. »Wir können gern tauschen. Du gehst mit meiner Mama zur Schneiderin, und ich setze mich zu deiner Mama ins Café Engel.«
Das will Hilde allerdings auch nicht. Erstens ist Giselas Mama ziemlich streng. Und zweitens würde Hilde das Café Engel gegen nichts und niemanden in der Welt eintauschen.
»Dann bis morgen …«, sagt sie zu Gisela.
»Bis morgen … Kann ich die Rechenaufgaben morgen früh wieder von dir abschreiben?«
»Meinetwegen …«
Gisela winkt und läuft davon in Richtung Webergasse. Ihre blaue Jacke, die sie ausgezogen und über den Ranzen gehängt hat, bläht sich im Wind wie ein Segel. Hilde wendet sich zum elterlichen Café, wo über dem Eingang ein pausbäckiger Engel aus goldfarbenem Blech baumelt, eine Kaffeekanne in den Händen. Auch hier sitzen schon einige wenige Gäste an den Tischen, die Finchen draußen auf dem Trottoir aufgestellt hat.
»Ja, die Hilde …«, ruft eine dicke Frau im Pelz. »Na, ist die Schule schon aus?«
Das ist die Frau Knauss, die hat ziemlich viel Geld, sagt Mama, und Hilde ist angewiesen, sehr höflich zu sein. Auch wenn sie blöde Fragen stellt, wie jetzt zum Beispiel.
»Ja, gnädige Frau«, sagt sie und macht einen angedeuteten Knicks.
Frau Knauss lächelt gönnerhaft und meint zu ihrer Freundin Ida, die mit kältestarrer Miene ihre Tasse umklammert, dass die Kinder heutzutage doch kaum noch etwas lernen würden. Die Freundin nickt. Auch der junge Mann, der mit am Tisch sitzt, bestätigt diese Meinung.
»Haben Sie noch einen Wunsch?«, fragt Hilde. Es klingt genauso, wie Finchen, die Bedienung, es immer sagt. Hilde würde wahnsinnig gern im Café servieren, aber leider darf sie das nicht.
»Drei Kaffee-Cognac …«, bestellt Frau Knauss und fügt hinzu, dass Hilde ein tüchtiges Mädel sei.
Das findet die blonde Hilde auch. Sie nimmt den Schulranzen ab, bevor sie durch die Drehtür ins Café hineingeht. Das ist wichtig, weil sie schon einmal mit dem Ranzen in der Tür stecken geblieben ist. Auch drinnen wird sie von einigen Gästen begrüßt, das Café Engel hat viele Stammgäste. Manche kommen schon am Vormittag, trinken Kaffee oder auch ein Weinchen und lesen die Zeitung.
Hilde grüßt zurück und geht zu der gläsernen Kuchentheke, wo Finchen, die Serviererin, gerade zwei Stücke Schokosahne auf Teller legt.
»Drei Kaffee-Cognac nach draußen«, gibt Hilde die Bestellung routiniert weiter. Dann setzt sie sich an den kleinen Tisch gleich