: Vladimir Nabokov
: Sieh doch die Harlekine!
: Rowohlt Verlag Gmbh
: 9783644002296
: 1
: CHF 10.00
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 384
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
DNabokovs vierzehnter Roman - der erste aus der Zeit nach «Lolita» - gibt sich als die kommentierte Ausgabe eines 999 Zeilen langen Gedichts mit dem Titel «Sieh doch die Harlekine!», verfasst von John Shade, einem bedächtigen neuenglischen Lyriker und Professor, der von einem Mörder erschossen wurde, ehe er die letzte, die tausendste Zeile zu Papier bringen konnte. Der Herausgeber ist sein Kollege, Nachbar und angeblicher Freund Charles Kinbote. Dessen Kommentar verfehlt jedoch Shades ernstes Poem, in dem es um den Selbstmord der schwierigen und hässlichen Tochter, um den Tod und die Wahrscheinlichkeit eines Lebens danach geht, auf eine so dreiste wie groteske Weise. Kinbote gibt sich nämlich als der exilierte König von Zembla zu erkennen, Carl der Vielgeliebte, der Shade nicht dazu bringen konnte, seine Lebensgeschichte aufzuschreiben, und der es nun in Form von Anmerkungen zu «Sieh doch die Harlekine!» selber tut. Ihm galt, so meint er, auch die Kugel, die Shade tötete. Freilich ist zweifelhaft, ob es sich so verhält. Nabokov lockt den Leser auf Rätselgänge, Licht des fahlen Feuers flackert von Spiegel zu Spiegel, Echos erklingen: ein Virtuosenstück, «eine Amalgamierung von Ernst und Spiel, einer anrührenden menschlichen Geschichte mit dem kühlen Kalkül einer Problemschachaufgabe». Dieter E. Zimmer

Vladimir Nabokov wird am 22. April 1899 in St. Petersburg geboren. Nach der Oktoberrevolution flieht die Familie 1919 nach Westeuropa. 1919-1922 in Cambridge Studium der russischen und französischen Literatur. 1922-1937 in Berlin, erste Veröffentlichungen, meist unter dem Pseudonym W. Sirin. 1937-1940 nach der Flucht aus Nazideutschland in Südfrankreich und in Paris, seit 1940 in den USA. 1961-1977 wohnt Nabokov im Palace Hotel in Montreux. Er stirbt am 2. Juli 1977.

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«Was für eine Kindheit hattestdu denn, McNab?» (wie Ivor mich zu nennen beliebte, weil ich seiner Meinung nach jenem hageren, aber gutaussehenden jungen Schauspieler glich, der diesen Namen in den letzten Jahren seines Lebens oder zumindest seines Ruhmes annahm.)

Grässlich, unausstehlich. Es sollte ein natürliches, internatürliches Gesetz gegen solche inhumanen Eröffnungen geben. Wären nicht meine krankhaften Schrecken im Alter von neun oder zehn durch abstraktere, plattere Ängste (Probleme der Unendlichkeit, Ewigkeit, Identität und so fort) ersetzt worden, hätte ich schon den Verstand verloren, noch ehe ich meine Verse fand. Es ging nicht um dunkle Räume oder qualvolle einflüglige Engel oder lange Korridore oder Albtraumspiegel, deren Reflexionen in unordentlichen Pfützen auf den Fußboden überliefen –die Art Horrorschlafzimmer war es nicht, sondern einfach, und bei weitem schrecklicher, eine gewisse hinterhältige und unnachgiebige Verbindung mit anderen Seinszuständen, nicht eigentlich «vergangenen» oder «zukünftigen», sondern entschieden verbotenen, sterblich gesprochen. Erst etliche Jahrzehnte später sollte ich mehr, viel mehr über jene schmerzlichen Bande lernen, also «lasst uns nichts vorwegnehmen», wie der Verurteilte sprach, als er die schmutzige alte Augenbinde von sich wies.

Die Wonnen der Pubertät verschafften mir zeitweise Erleichterung. Mir blieb die grämliche Phase der Selbstinitiation erspart. Gesegnet sei meine erste süße Liebe, ein Kind in einem Obstgarten, forschende Spiele – und ihre gespreizten fünf Finger, von denen Perlen der Überraschung tropften. Ein Hauslehrer ließ mich an der Naiven in meines Großonkels Privattheater teilhaben. Einmal putzten mich zwei liederliche junge Damen mit einem Spitzenhemd und einer Loreleiperücke heraus und legten mich zwischen sich schlafen, als «schüchternes Cousinchen» wie in einem Heftchenroman, während ihre Ehemänner nach der Bärenjagd im Nebenzimmer schnarchten. Die weiträumigen Häuser verschiedenster Verwandter, bei denen ich in meiner frühen Jugend unter den fahlen Sommerhimmeln dieser oder jener Provinz des alten Russland dann und wann wohnte, boten mir ebenso viele willfährige Mägde und feine Flirts, wie ich sie zwei Jahrhunderte früher in Kleiderkammern und Lauben vorgefunden hätte. Mit einem Wort, wenn die Jahre meiner Kindheit ein Thema für jene Art gelehrter Doktorarbeit hätten abgeben können, auf die ein Pädopsychologe lebenslangen Ruhm gründet, so hätten andererseits meine Jugendjahre eine hübsche Anzahl erotischer Passagen liefern können – und lieferten sie ja auch tatsächlich, verstreut wie rottende Pflaumen und braune Birnen überall in den Büchern eines alternden Romanciers. Zweifellos beziehen die vorliegenden Erinnerungen einen Großteil ihres Wertes aus der Tatsache, dass sie einencatalogue raisonné der Wurzeln und Ursprünge und amüsanten Geburtskanäle vieler Bilder in meinen russischen und vor allem meinen englischen Romanen darstellen.

Meine Eltern sah ich selten. Sie ließen sich scheiden und heirateten wieder und ließen sich von neuem mit einem derartigen Tempo scheiden, dass ich bei weniger Wachsamkeit meiner Schicksalshüter schließlich durchaus von einem Paar Fremdlingen schwedischer oder schottischer Herkunft hätte ersteigert werden können, mit traurigen Säcken unter hungrigen Augen. Eine außerordentliche Großtante, die Baronin Bredow, geborene Tolstoj, bot reichlichen Ersatz für engere Blutsbande. Als sieben- oder achtjähriges Kind, das längst die Geheimnisse eines ausgewachsenen Wahnsinnigen barg,