: Ahmad Mansour
: Klartext zur Integration Gegen falsche Toleranz und Panikmache
: S. Fischer Verlag GmbH
: 9783104908939
: 1
: CHF 16.00
:
: Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
: German
: 304
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
»Wir müssen offen miteinander reden, sonst spielen wir den Rechten in die Hände.« Ahmad Mansour Eine der drängendsten Aufgaben unserer Gesellschaft ist Integration. Doch kein Thema polarisiert stärker. Staat und Gesellschaft stehen dieser Aufgabe bisher planlos gegenüber, es mangelt an konkreten Konzepten, einer unvoreingenommenen, sachlichen Debatte und langfristigen Plänen. Der Psychologe und Bestsellerautor Ahmad Mansour, selbst muslimischer Immigrant, beschäftigt sich seit vielen Jahren mit den Problemen und Chancen von Integration. Er reiste durch ganz Deutschland, besuchte Haftanstalten, Schulen und Flüchtlingsunterkünfte und sprach mit Politikern, Lehrern und Sozialarbeitern. So hat er wie niemand sonst erfahren, wie Zusammenleben funktionieren und woran es scheitern kann. Ohne falsche Rücksichtnahme spricht er offen an, in welchen gesellschaftlichen Bereichen Veränderungen nötig sind, wo die Politik oder jeder Einzelne gefragt ist und welche Werte unverhandelbar sind. Mansour macht unmissverständlich klar, dass wir alle umdenken müssen - ein eindrücklicher Appell.

Ahmad Mansour, geboren 1976, ist arabischer Israeli und lebt seit 2004 in Berlin. Er ist Diplom-Psychologe und arbeitet für Projekte gegen Extremismus, zum Beispiel begleitet er Familien von radikalisierten Jugendlichen, Aussteiger und verurteilte Terroristen. Zudem engagiert er sich unermüdlich gegen Antisemitismus. 2015 erschien sein Bestseller »Generation Allah. Warum wir im Kampf gegen religiösen Extremismus umdenken müssen«, 2018 »Klartext zur Integration. Gegen falsche Toleranz und Panikmache«. Zum Thema Salafismus und Antisemitismus hat er zahlreiche Veröffentlichungen vorgelegt und in vielen Talkshows mitdiskutiert. Anfang 2018 gründete er Mind Prevention (Mansour-Initiative für Demokratieförderung und Extremismusprävention). Für seine Arbeit erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, u. a. den Moses-Mendelssohn-Preis zur Förderung der Toleranz, den Carl-von-Ossietzky-Preis, den Theodor-Lessing-Preis, den Menschenrechtspreis 2019 der Gerhart und Renate Baum-Stiftung sowie 2022 das Bundesverdienstkreuz am Bande. 

Vater und Sohn


Wir fangen an. Die Rollenspiele, die wir mit ihnen durchführen, sollen überspitzt Situationen aus Familien beschreiben: Ein Vater kommt nach Hause, sieht seinen Sohn vor dem Computer sitzen und spielen. Der Vater wird wütend, gibt dem Sohn einen Schlag auf den Hinterkopf.

»Was machst du hier? Spielen, spielen, spielen! Den ganzen Tag spielst du. Gehst nicht in die Schule, sitzt nur zu Hause rum und machst nichts, außer zu spielen.«

»Ja, aber Baba …«

»Deine Mutter weint jeden Tag wegen dir. Und warum warst du heute nicht in der Moschee? Alle fragen mich ständig nach dir. Und ich? Ich weiß nie, was ich sagen soll. Ich schäme mich.«

»Ich weiß auch nicht …«

»Ich weiß auch nicht, ich weiß auch nicht! Was weißt du denn, Sohn? Sag’s mir!«

»Ich …«

»Was?«

»Mir geht’s nicht so gut …«

»Kein Wunder. Du hängst ja auch nur zu Hause rum und spielst. Zur Schule gehen sollst du, arbeiten, beten sollst du, auf deine Schwestern aufpassen. Nichts davon machst du. Was soll nur aus dir werden? Eine Schande bist du!«

»Baba, ich …«

»Sei ruhig. Ich will nichts mehr hören. Geh mir aus den Augen. Sofort.«

Ende.

Applaus.

Ich warte einen Moment, dann frage ich: »Was fällt euch dazu ein?« Manche Antworten kommen unmittelbar, manche sehr zögerlich – und sie sind sehr unterschiedlich:

»Ha, genauso ist mein Vater. Als ob ihr in meiner Familie zu Besuch wart.«

»Ich wünschte, ich hätte so einen Vater gehabt. Meiner hat mich eigentlich immer nur ignoriert. Da konnte ich machen, was ich wollte.«

»Ich verstehe den Vater. Er will dem Sohn etwas vermitteln. Da muss man auch streng sein. Die Eltern meinen es ja nicht böse. Sie wollen, dass man etwas von der Familie, Religion und Tradition lernt.«

Am Anfang gibt es von den Gefangenen häufig viel Zuspruch für den Vater. Ich sage zu meinem Kollegen: »Was bist du für ein Vater? Wo ist die Liebe? Hast du dich gefragt, wie es dazu kommen konnte, dass dein Sohn jetzt so ist?« Der Vater antwortet: »Ich gehe jeden Tag zwölf Stunden arbeiten, nur für ihn, das ist doch Liebe.« Dann frage ich, wieso er so mit seinem Kind redet und wie seine Erziehung bis jetzt gewesen ist.

Auf einmal melden sich auch andere Stimmen zu Wort:

»Also ich sehe nur Dominanz. Da wird nicht nachgefragt, warum spielst du? Nur Vorwürfe, ein Gewitter an Ansagen. Es wird ihm ein schlechtes Gewissen gemacht, mehr nicht. Da ist null Interesse für den Sohn.«

»Ich kenne das von meinem Vater, die Erniedrigungen, die Vorwürfe. Das hat mir keinen Spaß gemacht. Ich war einfach nicht religiös und hab mir das dann einfach nur angehört. Ich konnte ja nicht einfach meinen Vater schlagen, auch wenn ich …«

»Und dann bist du auf die Straße gegangen und hast andere dafür geschlagen. Stimmt’s?«, sagt ein Mitgefangener.

Stille.

Ein anderer redet weiter:

»Was soll er denn auch tun? Den Vater kritisieren? Das macht man doch nicht. Wenn ich öfter auf meinen Vater gehört hätte, säße ich heute nicht hier. Ganz bestimmt nicht.«

»Aber da kommt nur Kritik. Ich sehe keine Liebe. Meine Eltern haben mir das auch nicht beigebracht. Ich habe irgendwann gemerkt, dass mir etwas fehlt. Deshalb möchte ich das ändern. Ich möchte lernen, über meine Gefühle zu sprechen. Ich mache deshalb eine Gewalttherapie.«

Ich bin überrascht, wie sich diese Männer den anderen Gefangenen und uns gegenüber allmählich öffnen, über Fehler nicht nur nachdenken, sondern auch sprechen, sie zugeben, sie reflektieren. Und das, obwohl wir uns erst eine halbe Stunde kennen.

Sicherlich schafft die Tatsache, dass meine Kollegen und ich selbst Migranten sind, oft die gleiche Sprache sprechen und manchmal sogar die gleichen Namen tragen, Vertrauen. Wir sind nicht die Polizei, nicht die Justiz. Wir sind nicht die anderen, wir sind nur wir. Manchmal reicht es, unsere Namen zu nennen und automatisch ist ein gewisses Grundvertrauen da. Wir spielen ihnen nichts vor, sondern interessieren uns tatsächlich für ihre Meinungen und Einstellungen. Wir schließen niemanden aus, wir bewerten weder ihr Aussehen noch ihre Strafen oder ihre Äußerungen. Hier dürfen sie drei Stunden lang mit ihren Gedanken frei sein, nach unserem Motto: Freiheit beginnt im