WO DIE WELT ZU ENDE IST
Nichts Schöneres für ein Kind, als da aufzuwachsen, wo die Welt zu Ende ist. Da gibt es nicht viel Verkehr, der Asphalt ist für die Rollschuhe da, und die Eltern müssen sich keine Gedanken um herumschweifende Bösewichter machen. Was will ein Bösewicht in einer Sackgasse.
Die Wohnung, von der aus ich zum ersten Mal auf eigenen Füßen auf die Straße hinuntergehe, liegt im zweiten Geschoß eines prächtigen alten Mietshauses mit prächtig abblätterndem Putz, verglasten Erkern, einer riesigen doppelflügligen Eingangstür und einer hölzernen Treppe, das Ende des Handlaufs mündend in ein blankgegriffenes Ungeheuer. Florastraße 2A, Florastraße 2A, Florastraße 2A. Die ersten Worte nach Mama und Papa sind dieser Straßenname und diese Hausnummer. Damit ich, falls ich verlorengehe, immer sagen kann, wo ich hingehöre. Florastraße 2A. Hockend im Treppenhaus dieses Hauses lerne ich, wie man eine Schleife zubindet. Gleich um die Ecke, in der Wollankstraße, befindet sich der Bäckerladen, in dem ich, vier- oder fünfjährig, zum ersten Mal in meinem Leben allein einkaufen darf, von meinen Eltern hinuntergeschickt mit Beutel und abgezählten Talern für die Brötchen zum Frühstück. Der Bäckerladen hat geschnitzte Regale und eine Kasse, bei der die Verkäuferin, bevor sie das Geld hineingibt, an einer Kurbel dreht. Wenn die Schublade aufgeht, klingelt es. Die Wollankstraße endet ein paar hundert Meter weiter sehr plötzlich an einer Mauer. Dort ist die Endhaltestelle der Buslinie 50. Meine Eltern müssen sich keine Gedanken um herumschweifende Bösewichter machen, was will ein Bösewicht in einer Sackgasse. Damals werde ich allein auf den Hof zum Buddeln geschickt, eine große Tanne wirft Schatten auf meinen Buddelkasten, und wenn das Essen fertig ist, ruft meine Mutter aus dem Fenster. Im ersten Stock unseres Hauses ist eine Tanzschule, von dort hört man bis auf den Hof hinunter ein Klavier klimpern und die Anweisung der Lehrerin für die Schritte.
Hinter der Mauer, an der die Wollankstraße damals für mich zu Ende ist, fährt die S-Bahn. Sie fährt nach links und nach rechts, aber beide Richtungen kommen für uns nicht in Frage. Eine S-Bahn-Station weiter links, aber auch auf unserer Seite der Mauer, wohnen meine Großmutter mit ihrem Mann und meine Urgroßmutter zusammen in einer Zweizimmerwohnung im dritten Hinterhof eines Berliner Hauses. Eigentlich ist das Haus ein Eckhaus. Von der anderen Seite betreten, würde die Wohnung im Vorderhaus sein. Aber seit diese andere Seite zum Grenzstreifen erklärt worden ist, endet die begehbare Straße kurz vor der Ecke sehr plötzlich an einer Mauer. In diesem Viertel, in dem das Mietshaus meiner Großmutter und meiner Urgroßmutter steht, ist immer Winter. Wenn ich die Schneeflocken vor dem grünlichen Licht der Straßenlaterne ansehe, wird mir schwindlig, Kohlen werden aus dem Keller geholt, der Boden des dritten Hinterhofs ist mit Beton ausgegossen, und um die Aschetonnen herum, die dort stehen, sind Schnee oder Pfützen immer schäbig und rötlich. Gebadet wird in diesem Haushalt nur einmal pro Woche, denn dafür muss der Badeofen geheizt werden. Das winzige Fenster zum Lüften des Badezimmers öffnet man mit einer mir unendlich lang scheinenden Metallstange, die oberhalb der Toilette zu greifen ist. Sie führt über die Speisekammer hinweg, die von der Küche her abgeteilt ist, durch einen hochgelegenen Tunnel bis zu diesem mir niemals sichtbaren winzigen Fenster. In der Küche steht auf dem Boden eine große, bauchige Flasche mit gärendem Traubensaft, aus dem Wein werden soll, aber manchmal wird daraus Essig. Auf dem Küchenbuffet sehe ich ein Einweckglas mit Blutegeln, die meine Großmutter sich wegen Thrombosegefahr selbst ansetzen muss. Wenn ich das Birnenkompott auslöffele, das es als Nachspeise gibt, blicke ich mit leichter Beunruhigung auf die Egel und den Verschluss dieser Gläser. Das Geschirr wäscht meine Großmutter nicht unter fließende