Prolog
Berlin, Herbst 1999
Das Kruschtelzimmer am Ende des langen Flurs ist Paulinas heimliches Paradies. Früher hat es ihrem Vater gehört, und noch immer meint sie dort eine Spur seines englischen Pfeifentabaks zu riechen. Dabei ist er doch schon vor vielen Monaten gestorben. Mamasi, wie sie ihre Mutter Simone nennt, hat es seitdem mit Beschlag belegt – fliederfarbene Wände, ihre antike Nähmaschine, der große Korb voller Wollknäuel und ein zierlicher Sekretär unter dem Fenster zeugen davon.
Aber es gibt nach wie vor Papas Regale und Vitrinen, in denen seine Ammoniten stehen, die funkelnden Kristalldrusen, und jene famose Blechspielzeugsammlung, die so kostbar ist, dass Paulina sie früher nur anschauen, aber auf keinen Fall anfassen durfte.
Heute erschafft sie aus alldem ihre eigenen Welten, sobald die Mutter bei der Arbeit und sie zu Hause ungestört ist. Den Freundinnen verrät die Elfjährige nichts davon, weil die anderen Mädchen sie sonst kindisch finden könnten. Dabei ist es doch so aufregend und jeden Tag wieder ganz anders! Aus ein paar Edelsteinen und Stoffresten hat sie eine kleine Theaterbühne gezaubert, auf der sie die bunten Figürchen auftreten lässt. Sie reden so, wie es Paulina in den Sinn kommt, und sagen all jene Dinge, die sie selbst lieber hinunterschluckt, um ihre Mamasi nicht noch trauriger zu machen.
Dass sie Angst vor dem Umzug hat, weil sie dann in eine neue Schule muss.
Dass sie mit Herz und Seele an dieser geräumigen Altbauwohnung hängt und sich nicht vorstellen kann, künftig in viel kleineren Räumen zu leben.
Dass sie jeden Abend im Bett vor dem Einschlafen weinen muss, weil Papas Bart sie nicht mehr beim Gute-Nacht-Kuss kitzelt.
Dass sie ihre heitere, stets gut aufgelegte Mutter wieder zurückhaben möchte, die jede Angst wegbläst.
Und wie sehr Paulina es hasst, dass ihre Mamasi auf einmal Geheimnisse vor ihr hat.
Um sich vor weiteren Überraschungen zu wappnen, durchforstet sie seit Neuestem sogar deren Handtasche, wann immer sich die Möglichkeit dazu ergibt. Leider hat sie bislang noch nichts von Bedeutung gefunden, doch Paulina studiert trotzdem selbst die allerkleinsten Notizen eingehend.
Mit Toni reden?, steht beispielsweise auf einem verknitterten gelben Post-it.
Aber warum schreibt sie sich das auf?
Mit Antonia, die in Potsdam lebt, reden sie doch ohnehin dauernd. Die ältere Dame ist für Paulina so etwas wie eine Wahloma, da sie keine eigenen Großeltern mehr hat, und seit Papas Tod sind sie sogar noch häufiger mit ihr zusammen.
Sie müsste Mamasi fragen.
Doch dann wüsste die ja, dass sie heimlich in ihrer Tasche kramt …
Seufzend setzt sich Paulina an den Sekretär und zieht nur mal für alle Fälle an der Schublade.
Unverschlossen!
Sie ist so verblüfft, dass sie für einen Moment erstarrt. Dann jedoch fasst sie sich wieder und öffnet die Schublade ganz.
Es riecht ein wenig bitter nach vergossener Tinte. Vorne liegen ein paar gespitzte Buntstifte und ein altes Holzlineal, das bei Zentimeter 15 abgebrochen ist. Als sie ein wenig tiefer tastet, berühren ihre Finger Papier, so weich, als hätte jemand es viele Male in der Hand gehabt.Gebraucht und geliebt, muss Paulina unwillkürlich denken, dann zieht sie es hervor und faltet es auf.
Eine runde Handschrift mit großzügigen Unterlängen, die sie auf Anhieb mag. Die türkisfarbene Tinte ist schon leicht verblasst, aber noch immer gut lesbar.
Jetzt wird auch