: Karsten Kehr
: Andrea - Briefe aus dem Himmel Eine Mutter nimmt Abschied von ihren Kindern
: Eden Books - ein Verlag der Edel Verlagsgruppe
: 9783959101684
: 1
: CHF 10,80
:
: Romanhafte Biographien
: German
: 208
: kein Kopierschutz
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Eine Mutter nimmt Abschied - der Krebs ist stärker. Im Mai 2017 hat Andrea (31) ihren Kampf gegen die Krankheit verloren. Sie wusste: Sie hat nur noch ein Jahr. Unheilbar, der perfide Krebs. Andrea nutzte die wenige Zeit auf ihre Art und hinterließ zwei persönliche Vermächtnisse: Heimlich schrieb sie zum einen im Kinderzimmer ihrer Tochter Nele dutzende Briefe, bastelte liebevolle Geschenke. Jeder Brief eine Seite lang, adressiert an ihre beiden Töchter. Briefe, die weit in die Zukunft reichen: Bis zum 18. Lebensjahr zum Geburtstag ein paar liebe Zeilen. Mama Andrea schreibt darin über alles, was sie persönlich fühlte - in ihrer Kindheit, ihrer Jugend, als junge Mutter. Zum anderen wünschte sie sich einen Song, der ihren Namen trägt. Dutzende Briefe und ein Lied als Zeitraffer ihres viel zu kurzen Lebens. Andrea will damit bleiben, für immer. Sie starb am 7. Mai 2017.

Karsten Kehr, Jahrgang 1963, wurde in Zwickau geboren und wuchs in Westsachsen auf. Seit 1994 ist er als freiberuflicher Journalist für Zeitungen und Zeitschriften großer deutscher Verlage (Springer, Burda, Bauer, Klambt, Funke) tätig. Inhaltlich spezialisierte er sich auf Schicksalsgeschichten. Karsten Kehr ist mit der Sängerin NEA!, die mit bürgerlichem Namen Sylvia Martens heißt, verheiratet und lebt in Leipzig.

»Krebs kündigt sich nicht an. Er kommt wie ein ungebetener Gast.«


Der 14. April 2016 ist ein grau-trüber Donnerstag. Nur ab und zu blitzt die Sonne durch die tiefliegenden Wolken. Ich fahre pünktlich mit meinem schwarzen VW Käfer aus dem Leipziger Südwesten los. Bis Röcken in Sachsen-Anhalt sind es zwanzig Autominuten. Ein kurzes Stück Autobahn, dann auf der Landstraße einmal links abbiegen.

Tatsächlich – da steht »Röcken« auf einem Wegweiser. Nie zuvor hatte ich von diesem kleinen Ort im südlichen Sachsen-Anhalt gehört. Nur wenige Meter nach dem Ortseingangsschild ist die »Friedrich-Nietzsche-Gedenkstätte« ausgeschildert. Nietzsche, der große Philosoph, er wurde in Röcken geboren und liegt hier auch begraben. Ich erinnere mich an Fragmente aus meinem Studium: Er bekämpfte den Pessimismus und war Verfechter einer lebensbejahenden Grundeinstellung. Lebensbejahend, denke ich, wie passend. Mir fällt ein alter Nietzsche-Spruch ein: »An Unheilbaren soll man nicht Arzt sein wollen.« Lieber nicht mehr helfen, wo man nicht mehr helfen kann? Aufgeben als einzige Alternative? Nietzsche, Röcken, Andrea. Ein Zeichen, ein Zufall?

Ich suche verzweifelt Andreas Adresse. Zwei Mal fahre ich daran vorbei, ohne sie zu entdecken. Es fehlt die Hausnummer. Schließlich finde ich einen kleinen Parkplatz vor einer Gaststätte, die seit langem geschlossen ist. Die Fenster sind mit Pappe verklebt, das vergilbte blauweiße Parkschild »Nur für Gäste« an der steinernen Außenwand wirkt absurd. Ich steige aus und hänge mir meine schwarze Fototasche um. Darin meine Kamera, mehrere Objektive, Notizblock und Stift. Mein Reporterbesteck.

Bis zur Hofeinfahrt von Andrea sind es keine hundert Meter. Es beginnt zu nieseln. Ich laufe schneller. Meine Tasche über der linken Schulter ist schwer, pendelt und schwenkt aus beim Gehen. Die Hofeinfahrt zu Andrea zieht sich, ein holpriger, unebener Weg. Die Kieselsteine unter meinen Schuhen knirschen. Schließlich sehe ich den alten Bauernhof. Andreas Vater Tilo hat ihn vor Jahren gekauft. Aus roten Backsteinen und mit spitzem Dach erbaut, ein mächtiges Gebäude. Die Vorderwand, der Giebel, sticht ins Auge – frisch hergerichtet und mit hellem Putz. Ein Foto davon habe ich auf der Hilfe-für-Familie-Bendrick-Seite gesehen. Autos nahezu aller Marken überschwemmen den Hof, eine Blechkarawane, so weit das Auge reicht. Von siebziger Oldie-Baujahren bis heute. Andreas jüngerer Bruder Matthias besitzt hier eine Autowerkstatt. Sie liegt Andreas Wohngebäude direkt gegenüber. Ich gehe deshalb nach links zur nagelneuen weißen Eingangstür. Sie ist unterteilt in sechs Glasscheiben und wirkt wie ein implantierter Fremdkörper mitten im uralten Gestein. Ich klingele und warte. Es dauert eine Weile, und als ich gerade überlege, noch einmal den namenlosen Klingelknopf zu drücken, höre ich Geräusche hinter der Tür. Jemand kommt eine knarrende Holztreppe hinab. Langsam, sehr langsam. Die Tür öffnet sich und Andrea steht vor mir.

»Hallo Andrea, ich bin Karsten Kehr«, stelle ich mich vor. Sie nickt, lächelt zurück und sagt knapp: »Komm bitte rein! Wir gehen nach oben, da haben wir es gemütlich!«

Wir steigen dreizehn Stufen hinauf zu ihrer Wohnung. Ich folge ihr, mein Blick streift gerahmte Familienfotos, die im schmalen Aufgang hängen.

Andrea trägt blaue Hauspantoffeln, eine rote Jeans, einen schwarzen Pullover. Ihre Haare sind kurz, ein frisch nachgewachsener zarter Flaum. Die Folgen der Chemotherapie, vermute ich. Das Laufen fällt ihr schwer, oben angekommen ist