»Krebs kündigt sich nicht an. Er kommt wie ein ungebetener Gast.«
Der 14. April 2016 ist ein grau-trüber Donnerstag. Nur ab und zu blitzt die Sonne durch die tiefliegenden Wolken. Ich fahre pünktlich mit meinem schwarzen VW Käfer aus dem Leipziger Südwesten los. Bis Röcken in Sachsen-Anhalt sind es zwanzig Autominuten. Ein kurzes Stück Autobahn, dann auf der Landstraße einmal links abbiegen.
Tatsächlich – da steht »Röcken« auf einem Wegweiser. Nie zuvor hatte ich von diesem kleinen Ort im südlichen Sachsen-Anhalt gehört. Nur wenige Meter nach dem Ortseingangsschild ist die »Friedrich-Nietzsche-Gedenkstätte« ausgeschildert. Nietzsche, der große Philosoph, er wurde in Röcken geboren und liegt hier auch begraben. Ich erinnere mich an Fragmente aus meinem Studium: Er bekämpfte den Pessimismus und war Verfechter einer lebensbejahenden Grundeinstellung. Lebensbejahend, denke ich, wie passend. Mir fällt ein alter Nietzsche-Spruch ein: »An Unheilbaren soll man nicht Arzt sein wollen.« Lieber nicht mehr helfen, wo man nicht mehr helfen kann? Aufgeben als einzige Alternative? Nietzsche, Röcken, Andrea. Ein Zeichen, ein Zufall?
Ich suche verzweifelt Andreas Adresse. Zwei Mal fahre ich daran vorbei, ohne sie zu entdecken. Es fehlt die Hausnummer. Schließlich finde ich einen kleinen Parkplatz vor einer Gaststätte, die seit langem geschlossen ist. Die Fenster sind mit Pappe verklebt, das vergilbte blauweiße Parkschild »Nur für Gäste« an der steinernen Außenwand wirkt absurd. Ich steige aus und hänge mir meine schwarze Fototasche um. Darin meine Kamera, mehrere Objektive, Notizblock und Stift. Mein Reporterbesteck.
Bis zur Hofeinfahrt von Andrea sind es keine hundert Meter. Es beginnt zu nieseln. Ich laufe schneller. Meine Tasche über der linken Schulter ist schwer, pendelt und schwenkt aus beim Gehen. Die Hofeinfahrt zu Andrea zieht sich, ein holpriger, unebener Weg. Die Kieselsteine unter meinen Schuhen knirschen. Schließlich sehe ich den alten Bauernhof. Andreas Vater Tilo hat ihn vor Jahren gekauft. Aus roten Backsteinen und mit spitzem Dach erbaut, ein mächtiges Gebäude. Die Vorderwand, der Giebel, sticht ins Auge – frisch hergerichtet und mit hellem Putz. Ein Foto davon habe ich auf der Hilfe-für-Familie-Bendrick-Seite gesehen. Autos nahezu aller Marken überschwemmen den Hof, eine Blechkarawane, so weit das Auge reicht. Von siebziger Oldie-Baujahren bis heute. Andreas jüngerer Bruder Matthias besitzt hier eine Autowerkstatt. Sie liegt Andreas Wohngebäude direkt gegenüber. Ich gehe deshalb nach links zur nagelneuen weißen Eingangstür. Sie ist unterteilt in sechs Glasscheiben und wirkt wie ein implantierter Fremdkörper mitten im uralten Gestein. Ich klingele und warte. Es dauert eine Weile, und als ich gerade überlege, noch einmal den namenlosen Klingelknopf zu drücken, höre ich Geräusche hinter der Tür. Jemand kommt eine knarrende Holztreppe hinab. Langsam, sehr langsam. Die Tür öffnet sich und Andrea steht vor mir.
»Hallo Andrea, ich bin Karsten Kehr«, stelle ich mich vor. Sie nickt, lächelt zurück und sagt knapp: »Komm bitte rein! Wir gehen nach oben, da haben wir es gemütlich!«
Wir steigen dreizehn Stufen hinauf zu ihrer Wohnung. Ich folge ihr, mein Blick streift gerahmte Familienfotos, die im schmalen Aufgang hängen.
Andrea trägt blaue Hauspantoffeln, eine rote Jeans, einen schwarzen Pullover. Ihre Haare sind kurz, ein frisch nachgewachsener zarter Flaum. Die Folgen der Chemotherapie, vermute ich. Das Laufen fällt ihr schwer, oben angekommen ist