: Nora Beyer
: Die Gleichheit der Blinden
: Periplaneta
: 9783959960823
: Edition Drachenfliege
: 1
: CHF 7.10
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: Fantastische Literatur
: German
: 236
: kein Kopierschutz
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Zwei Mädchen, zwei Welten, eine Geschichte. In den Republiken Allelands ist der Frieden bedroht, weil die Fantasten rebellieren. Die Gleichheit, die von den Egalitaristen einst mühsam erkämpft wurde, ist in Gefahr. Deshalb brennen die Scheiterhaufen, und auch die Fantastin Anna ist zum Tode verurteilt. In einem anderen Raum und in einer anderen Zeit lebt die Waise Elsa nun bei der gestrengen Frau Heidelbrecht. Sie ist die Erste, die einigermaßen mit der sonderbaren Eigenbrötlerin zurechtkommt. Doch als plötzlich bedrohliche Dinge geschehen, ist es mit dem Verständnis für Elsas 'Wolpertingerei' vorbei. Auf unerklärliche Weise sind die Schicksale von Anna und Elsa miteinander verknüpft. Eine Diktatur ist zu stürzen und ein Rätsel zu lösen - koste es, was es wolle. Ein dystopischer Fantasy-Roman und eine Hommage an die Vielfalt und die Kraft der Gedanken.

Nach Stationen beim mongolischen Fernsehen, an Universitäten in Südkorea und Sibirien, im Deutschen Bundestag und als wissenschaftliche Mitarbeiterin folgt Nora Beyer endlich ihrer großen Passion: dem Schreiben. Zum einen schreibt sie für namhafte Magazine über Computer-Spiele und deren Einfluss auf den Zeitgeist. Im Gegensatz zu manch einem pickligen Nerd weiß sie aber, was sie da analysiert und rezensiert, denn sie arbeitet zurzeit an ihrer Doktorarbeit über 'Morality and Ethics in Computer Games'. Zum anderen erscheint im Frühjahr 2018 ihr dystopischer Fantasy-Roman 'Die Gleichheit der Blinden' bei Periplaneta. Was man auch nicht verschweigen darf: Nora liebt es, wenn es bergab geht. Auf dem Bike. Dann feiert sie jeden Stein, jede Wurzel und jedes Schlammloch. Die mountainbikevernarrte Journalistin, Autorin und Doktorandin lebt in Nürnberg. www.norabeyer.com

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Elsa kann es nicht glauben. Sie steht vor dem schmiedeeisernen Zaun – wie fast jeden Tag, seit sie bei Frau Heidelbrecht wohnt – bereit, heimlich darüber zu klettern und sich in das verlassene Haus am Ende der Straße zu schleichen.

Elsa mag das verlassene Haus am Ende der Straße. Es ist aus Backstein, ein wenig windschief und riecht nach Abenteuer. Hier kann sie allein sein. Hier schreit niemand. Und sie kann diesen Blick vergessen, mit dem Frau Heidelbrecht sie manchmal ansieht. Wie ein Naserümpfen, nur eben in den Augen. Hier kann Elsa an die alte Decke starren, an der Spinnweben hängen und träumen. Wie sie es immer tut. Träumen von vergessenen Welten. Von Geschichten, die hinter ihren geschlossenen Augen leben.

Aber heute, an diesem neunten Oktober, ist das Haus verschwunden. Wie kann sich ein Haus in Luft auflösen? Sie blinzelt, hält die Hände vor die Augen, zieht sie wieder fort. Nichts passiert. Hinter dem Efeu, das den Zaun überwuchert, ist nichts zu sehen. Nur die Wiese und dahinter der dunkele Wald. Grübelnd macht sich Elsa auf den Heimweg, die Straße hinunter.

Zur selben Zeit verschwinden die beiden Katzen der alten Frau Pusch. Als Elsa im Mietshaus in der Valenberger Straße 66 ankommt, kann sie gerade noch hören, wie Frau Heidelbrecht im Treppenaufgang auf die Nachbarin, eine völlig aufgelöste Frau Pusch, einredet: „Katzen verschwinden nicht einfach so. Es tut mir sehr leid, aber ich fürchte, Sie müssen wohl damit rechnen, dass sie auf die Straße gelaufen sind. Und nun ja –“ Den Rest des Satzes lässt sie gnädigerweise unausgesprochen.

Frau Pusch tut Elsa leid. Außer den beiden Katzen hat die alte Frau niemanden mehr, und auch wenn es wahrscheinlich nur eine Frage der Zeit gewesen war, dass sie den Innenhof verlassen und auf die Straße laufen würden, mochte Elsa die beiden dicken grauen Katzen – auch wenn sie sich nie von ihr streicheln ließen.

Frau Heidelbrecht ist da anders. Katzen sind Katzen. Das Ganze ist sicherlich tragisch, aber so ist das eben. Man sieht ihr an, dass sie die schluchzende Alte in ihrer emotionalen Unbeherrschtheit (so würde es Frau Heidelbrecht ausdrücken) ganz und gar unverständlich findet.

Es ist ihr also ganz recht, dass Elsa in diesem Moment den Treppenaufgang hinaufkommt: „Da bist du ja! Abendessen ist schon seit einer halben Stunde fertig. Schnell jetzt!“ Und mit einem kaum bemühten Grunzen des Abschieds in Richtung der alten Pusch zieht sie Elsa in die Wohnung und die Tür hinter sich zu. Elsa kann gerade noch hören, wie die noch immer aufgelöste Alte hinter ihnen murmelt: „Es ist ein seltsamer Oktober. Irgendwas war mit ihnen. Irgendwas. So unruhig.“

Verschwindende Häuser und jetzt noch verschwindende Katzen? Irgendetwas geht an diesem seltsamen Donnerstag nicht mit rechten Dingen zu. Elsa hängt ihre Jacke an den Haken im Flur, zieht ihre geliebte weiße Strickjacke – die mit den roten Rosen darauf, zurecht – und folgt Frau Heidelbrecht in die Küche. Umgehend berichtet sie ihr von ihrer beunruhigenden Beobachtung.

Frau Heidelbrecht ist nun leider aber eine Dame, die für solcherlei obskure Beobachtungen keinerlei Verständnis hat: „Elsa, Liebes, da hast du dich versehen. Häuser verschwinden nicht einfach so.“ Und ihre Stimme erklärt in der Resolutheit eines physikalischen Gesetzes: Häuser verschwinden nicht. Einfach so. Genauso wenig wie Katzen.

Elsas „Aber“ geht bereits in der wirschen Handbewegung unter, die zu Tisch befiehlt. Und das Abendbrot ist beileibe keine passende Gelegenheit, um über verschwindende Häuser zu sprechen (so zumindest Frau Heidelbrechts Überzeugung).

Nun ist es so, dass Frau Heidelbrecht