: Jochen Schimmang
: Das Beste, was wir hatten
: Edition Nautilus
: 9783960541110
: 1
: CHF 16.20
:
: Erzählende Literatur
: German
: 320
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Was geschieht, wenn man in der Mitte des Lebens von den politischen Ereignissen überholt wird und alles, was man bis dahin für selbstverständlich angesehen hat, ins Strudeln gerät? Jochen Schimmang erzählt die Geschichte von Leo Münks, Verfassungsschützer, und Gregor Korff, Ministerberater. Ihre Köln-Bonner BRD-Welt gerät mit der Wende ins Wanken: Gregor erfährt, dass seine große Liebe, die ihn Mitte der Achtzigerjahre plötzlich verlassen hat, ein Stasi-Spitzel war; und Leo Münks wird ein Freund aus Berliner Studententagen, der ein Germania-Denkmal in die Luft sprengen will, beinahe zum Verhängnis. Schimmang, der Archivar der verschwindenden Dinge, hat einen klugen und sehr spannenden Roman über die letzten Jahrzehnte der Bonner Republik geschrieben.

Jochen Schimmang, geboren 1948, studierte Politische Wissenschaften und Philosophie an der FU Berlin und lehrte an Universitäten und in der Erwachsenenbildung. Von 1978 bis 1998 lebte er in Köln, seit 1993 als freier Schriftsteller und Übersetzer. Jochen Schimmang ist heute in Oldenburg ansässig. 2010 erhielt Jochen Schimmang für seinen Roman Das Beste, was wir hatten den Rheingau Literatur Preis 2010. In der Begründung der Jury heißt es: 'Die Jury würdigt die minutiöse Bildbeschreibung, mit der die alte Bundesrepublik wiederbelebt wird - durch dichte Milieuschilderung über mehrere Jahrzehnte hinweg und die Erzählung über Figuren, die allmählich den Boden unter den Füßen verlieren. Jochen Schimmang hält den zahlreichen Büchern, die der DDR ihre Erinnerung und ihre Kritik nachtragen, einen Roman entgegen, der den Untergang auch der Bonner Republik zur erzählerischen Gewissheit macht. Eingeschlossen ist die Trauer über die Vergänglichkeit der Aufbrüche, das Verschwinden von Hoffnungen und das Verblassen von Träumen in ungemein blickgewisser Genauigkeit.' 2012 erhielt er den Phantastik-Preis der Stadt Wetzlar für Neue Mitte sowie die Künstlerstipendien der Villa Concordia in Bamberg und des Künstlerhauses Edenkoben.

1 Der Schuppen


Der Regen hatte aufgehört, und sie fuhren auf ihren Rädern am Fluss entlang. Bisher war der Mai kühl und nass gewesen. In diesem Jahr hatten sie noch kein einziges Mal am Ufer im Gras gelegen. Nach dem Schauer kam die Sonne durch, und es schien erstmals richtig warm zu werden. Nott hielt an und ließ sein Fahrrad ins Gras fallen. Durch das Schilf sahen sie den Fluss vorbeiziehen: schnell und geschäftig, als müsse er heute noch irgendwo ankommen.

Nott wollte sich hinsetzen, aber Gregor war das Gras zu feucht. »Ich würde mir lieber mal den Schuppen da drüben ansehen«, sagte er.

Der Schuppen stand sechzig Meter vom Ufer entfernt, ein verwitterter Holzbau mit einer winzigen Veranda davor. Das Holz war einmal rostrot gewesen; inzwischen war es blass und hell. Gregor fühlte sich an die Laube erinnert, die früher in ihrem Schrebergarten in Thalheim gestanden hatte. Es war das einzige Gebäude hier weit und breit; der Rand der Stadt lag schon gut zwei Kilometer hinter ihnen.

Sie untersuchten die Tür, die nicht abgeschlossen war. Gregor rief ein paarmal leise Hallo, aber es kam keine Antwort. Nott zog die unverschlossene Tür langsam auf, ohne dass etwas Schreckliches geschah. Sie waren auf Gestank gefasst, auf Ungeziefer, einen Tierkadaver vielleicht, irgendetwas Ekliges. Der Bau war jedoch ganz leer; nur eine lange Sitzbank stand an der gegenüberliegenden Wand. Es roch muffig, aber nicht widerlich. Der Schuppen war solide gebaut und überraschend warm. Die drei Fenster, zwei nach vorn und eins nach hinten, starrten fast blind.

Sie waren keine Kinder mehr; dies hier sollte kein Unterschlupf für Tom Sawyer und Huckleberry Finn werden. Sie waren fünfzehn Jahre alt und sehnten sich nach Ruhm und nach Mädchen, mit denen man etwas anfangen konnte. Aber der Bau konnte ein Ort werden für sie. Er stand im Niemandsland, und kaum jemand kam hier vorbei. Wer immer diese Hütte einmal errichtet hatte, er war vielleicht gestorben oder hatte einfach keine Verwendung mehr dafür, und sie würden sie übernehmen: Nur sie beide, niemand sonst würde davon erfahren, das versprachen sie sich.

»Ich besorge ein Schloss«, sagte Nott.

»Ein Schloss?«

»Wir müssen die Tür absperren können, wenn wir hier drin sind.«

»Stimmt, ja. Kannst du das, ein Schloss einbauen?«

»Kann ich, ja. Morgen Nachmittag. Danach putzen wir die Fenster.«

Am nächsten Tag fuhren sie gleich nach dem Mittagessen dorthin und achteten darauf, dass ihnen niemand folgte. Es war noch wärmer geworden. Nott hatte einen Eimer voller Putzmittel mitgebracht und das Schloss mit zwei Schlüsseln. Nach zwei Stunden Arbeit unter Notts Anleitung hatten sie den leeren Schuppen gesäubert, und durch die Fenster fiel Licht, auch wenn innen noch immer ein angenehmer