: Clemens J. Setz
: Angelika Klammer
: Bot Gespräch ohne Autor
: Suhrkamp
: 9783518757161
: 1
: CHF 21.00
:
: Essays, Feuilleton, Literaturkritik, Interviews
: German
: 180
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB

Stellen Sie sich vor, Sie sind ein bekannter Schriftsteller und werden um ein ausführliches Interview gebeten. Sie sollen Auskunft geben über Ihre Interessen und intellektuellen Vorlieben, über die Voraussetzungen und Hintergründe, über Motive und Themen Ihres umfangreichen Werks. Stellen Sie sich vor, Ihnen fällt nichts ein, gar nichts, so sehr Sie sich auch bemühen. Dann muss eben jemand anderer über Sie erzählen. Aber wer sollte das sein? Wer weiß gut genug über Sie und ihre Bücher Bescheid? Im Fall des Schriftstellers Clemens J. Setz fand sich eine Alternative.Aber keine natürliche Person steht hier Rede und Antwort, sondern eine Art künstliche Intelligenz, sein Millionen von Zeichen umfassendes elektronisches Tagebuch - die ausgelagerte Seele des Autors, kurz gesagt: ein Clemens-Setz-Bot. Und was der Befragte selbst im mündlichen Gespräch nicht zu verbalisieren mochte, gibt das Werk allein, völlig losgelöst von seinem Autor, in verblüffender Offenheit preis.



<p>Clemens J. Setz wurde 1982 in Graz geboren, wo er Mathematik und Germanistik studierte. Heute lebt er mit seiner Frau und seiner Tochter als Übersetzer und freier Schriftsteller in Wien. 2011 wurde er für seinen Erzählband<em>Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes</em> mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet. Sein Roman<em>Indigo</em& t;stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2012 und wurde mit dem Literaturpreis des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft 2013 prämiert. 2014 erschien sein erster Gedichtband<em>Die Vogelstraußtrompete</em> . Für seinen Roman<em>Die Stunde zwischen Frau und Gitarre</em>erhielt Setz den Wilhelm Raabe-Literaturpreis 2015. Mit drei seiner Stücke war Setz bei den Mülheimer Theatertagen eingeladen. Zuletzt 2023 mit<em>Der Triumph der Waldrebe in Europa</em>. Zuletzt wurde er mit dem Georg-Büchner-Preis 2021 und dem Österreichischen Buchpreis 2023 geehrt.</p>

Tag 1


In einer neuen Stadt gehen Sie am liebsten gleich in eine Apotheke. Warum?

Freitagnachmittag in Wien. In der Apotheke überlege ich, den etwas losen Ärmelknopf meines Mantels abzureißen und der Verkäuferin vor mir in den Ausschnitt zu werfen, wie eine Münze in einen Automaten, vielleicht wäre es die richtige Zauberhandlung gegen meine Halsschmerzen. Ich bin unterwegs zum Bahnhof, und die Luft hat schon Schnee. Überhaupt sollte man mehr mit Knöpfen um sich werfen. Früher trugen die Männer zu diesem Zweck Orden an der Brust. Ein einzelnes Zeitungsblatt treibt auf der Straße, mal aufgeregt anbrandend gegen Hausmauern, mal geduckt undulierend wie ein Rochen. – Halspastillen werden zu Kontaktlinsen, wenn man sie lange im Mund hat.

(Anfang Dezember 2016)

Was unterscheidet eine inspirierende Apotheke von einer langweiligen?

In Dresden sehe ich einen Mann mit einem silberknaufigen Spazierstock (den er beim Gehen nur leicht aufsetzt) in der linken und einer rollenden Sauerstoffflasche in der rechten Hand. So geht er auf der Straße dahin.

In der Auslage eines Antiquariats liegt ein Buch:Kleine Anleitung zur Freundschaft mit einem Globus von Kapitän Alfred E. Schmidt, Verlag von Dietrich Reimer, 1939. Daneben gleich die Apotheke, hübsche Kombination, man hat an mich gedacht. Aber leider stehen keine Sauerstoffflaschen in der Auslage. Die Stadt reimt sich nicht vollkommen.

(6. März 2013)

Den Tipp mit der Apotheke haben Sie von Tucholsky. Was kann man sich noch von der Literatur abschauen?

Wolfseule twitterte einen Gedichtbandtitel,Ich bin ein Bauer und mein Feld brennt. Das lädt sehr zum Übernehmen und Weiterdichten ein:

Ich bin ein Vatikan und mein Papst brennt.

Die Sonne heute, in der erneut übers Land hereingebrochenen Föhnwärme, scheint ständig von allen Seiten zu kommen, momentweise sogar von unten, so als stünde man neben einer Vielzahl aufgeklappter Kopiergeräte, deren leuchtender Lesebalken hinter dem Glas auf und ab wandert. Irgendwo in dieser Stadt rollt eine Kugel, sie rollt unter Häusern dahin und unter Gärten, es ist eine uralte Kugel, und sie stößt kaum irgendwo an. Auf der Straße blieb eine alte Frau stehen und wandte sich, obwohl da nichts war, atemlos um, eine Hand an ihrem Mund. Es hat elf Grad, die Zeit vergeht gläsern. In den Stirnhöhlen fließt elektrisches Licht. Ozonblauer alpiner Kopfschmerz. Einige Vögel riefen im Hof durcheinander, sie hatten irgendetwas verloren, es fand sich nicht. Meine Armbanduhr fühlt sich falsch an, aber jedes Mal, wenn ich hinsehe, geht sie richtig. Man spürt heute den Erdkern. Selbst wenn ich Wasser aus einem Glas trinke, spüre ich ihn, da, weit unter mir.

Ich bin ein Plattenladen und mein Jazz brennt.

Jemandem in vollkommener Dunkelheit die Hand schütteln.

Der Moment, wo man beim Friseur den eigenen Hinterkopf in dem kleinen Handspiegel als Nachbarplaneten gezeigt bekommt.

Ich bin ein Kalender und mein Mai brennt.

Ich bin ein Zahnarzt und meine Schi-Alp