2Die merkwürdige Taube
Der einzige Lichtblick in dieser eierlosen Zeit war das Huhn Mathilde die Wilde, so genannt nach einer Figur aus Auerbachs Kinderkalender, einem frechen, vorlauten Kind, mit dem, wie wir fanden, Mathilde eine gewisse Ähnlichkeit hatte. Zudem war sie ein wirklich außerordentliches Huhn, dem die Widrigkeit der Jahreszeiten fremd zu sein schien. So etwas wie Mauser kannte sie jedenfalls nicht, und die Misslichkeit, wie ihre Artgenossinnen halb nackt herumzulaufen, blieb ihr erspart. Sie verlor ihr schmuckes Federkleid nie und legte das ganze Jahr durch Eier. Allerdings dachte sie nicht daran, das dafür bestimmte Nest zu benutzen. Sie zog es vor, ihre eigenen wilden Wege zu gehen. Und die führten sie sonst wohin, egal, ob das frisch gelegte Ei bei15 Grad unter Null einfror oder nicht.
Vater regte sich darüber am meisten auf, denn es ging umsein Frühstücksei, ein Privileg, das er sich einfach zugestand und auf das er pochte. Er ließ sich weder von gierigen noch vorwurfsvollen Blicken in seinem Genuss stören und gab uns nur gelegentlich einen winzigen Klecks Eigelb ab, das er mit seinem Eierlöffel auf unsere Brote strich. Für diese wirklich außerordentliche Großzügigkeit war es unsere Pflicht, Mathilde ständig im Auge zu behalten; der Ruf «Mathilde ist jetzt in der Scheune!» ließ uns sofort dorthin eilen, und die Suche nach dem Ei begann. Manchmal erwies es sich dabei als notwendig, einen schmalen Balken entlang zu balancieren, was mein Bruder mutig tat.
«Junge, sei vorsichtig!», rief Mutter, und Vater: «Pass auf, dass das Ei nicht kaputtgeht!«
Mathildes Eier waren an den unmöglichsten Stellen zu finden: in der Häckselmaschine, im geschlossenen Coupé, genannt der Affenkasten, in einer Krippe im Pferdestall. Eines Tages kam mein Onkel vom Nachbarort herüber, und wir gingen mit ihm über den Hof, als er seine kurzsichtigen Augen auf den Taubenschlag richtete. «Was ist denn das für ’ne Rasse? So ’ne merkwürdige Taube hab ich ja überhaupt noch nicht gesehen!«
«Glaub ich dir aufs Wort», sagte Vater. Denn was sich da zwischen die gurrenden Tauben gesellt hatte, war Mathilde, und als sie uns sah, gackerte sie impertinent.
Irgendwann kam sie dann von einem ihrer Ausflüge nicht mehr zurück. Niemand wusste, was mit ihr passiert war. Hatte sie der Fuchs geholt, oder war sie in den Kochtopf fahrenden Volkes geraten, das mit Beginn des Frühjahrs wieder durch die Lande zog? Im Gegensatz zu anderen Hühnern blieb sie uns in Erinnerung, und im Winter blickte Vater noch lange wehmütig auf seinen eierbecherlosen Teller.
Allmählich machte der Frühling sichtbare Fortschritte. Die Maulwürfe tummelten sich unter dem noch nicht wieder gewachsenen Rasen, Blesshühner und Enten zankten sich auf dem See um die besten Nistplätze, die Kiebitze zeigten ihre Flugkünste, und auf den vorher überschwemmten Wiesen standen nur noch einige Pfützen. Winzige Lebewesen durchpflügten das Wasser in den Regentonnen, der Kahn wurde neu geteert, die Reusen wurden instand gesetzt, und Vater sagte: «Der Frost ist raus, jetzt können wir mit Pflanzen anfangen.«
Auch das Geflügel begann sich auf seine Pflichten zu besinnen, wenn auch zunächst noch recht zaghaft. Und dann endlich gab es wieder die lange vermissten Köstlichkeiten: jede Art von Omeletts, salzig oder süß, Baisers mit Schlagsahne, Eierkuchen mit Apfelmus, Biskuitrolle, und wenn Mamsell guter Laune war, erlaubte sie uns Kindern Hoppelpoppel, ein mit Zucker kremig geschlagenes Ei. Enten- und Gänseeier durften nur gekocht verwendet werden. Man hielt sie roh für gefährlich, und zum Beweis dieses Glaubens erzählte Mamsell uns gern die Geschichte von einem Jungen namens Franz, der ein Entenei getrunken hatte. Er wurde ohnmächtig, und ein paar Tage später fielen ihm sämtliche Haare aus, die nie wieder nachwuchsen. Worauf mein Bruder mich nachdenklich ansah und meinte, er würde mich auch gern mal mit Glatze sehen.
Zu unserer Verwunderung waren viele der gelegten Eier