ZWEI
Obwohl Olivier Malbec mittlerweile schon seit eineinhalb Jahrzehnten in der Provence lebte, fiel es ihm manchmal noch immer nicht leicht, den eigenartigen Singsang der Einheimischen zu verstehen. Der breite, vollmundige Akzent des Midi faszinierte ihn, doch er selbst bestellte Brot und Wein mit einem nasal moduliertenpain undvin statt mit einem sattenpäng undväng und drückte seine Zustimmung mit einem dezentenoui statt mit einem kräftigenuä aus.
Es kam zwar nur selten vor, aber manchmal ließ man ihn spüren, dass er ein »Fremder« war, dass er nicht dazugehörte. Er kannte diese Ablehnung, die vor allem den Parisern in der Provence entgegenschlug, da man sie gern für den Anstieg der Immobilienpreise verantwortlich machte. Dabei wären viele Dörfer aus Mangel an Arbeitsplätzen und Infrastruktur vom Aussterben bedroht, hätten nicht vermögende Ausländer – und darunter selbstverständlich auch zahlreiche Pariser – einen Zweit- oder Alterswohnsitz in der Region erworben. Doch allein aufgrund seines überschaubaren Gehalts fühlte sich Malbec diesem Feindbild nicht zugehörig.
Schon durch die »zweisprachigen« Ortsschilder wurde er daran erinnert, dass es noch eine andere Provence gegeben haben musste. Unter dem französischen Ortsnamen fand sich stets eine gleich große Metalltafel mit der provenzalischen Schreibweise. Cavaillon stand auf den rot umrandeten Schildern gleichbedeutend neben Cavalhon, und am Ortseingang von Gordes wurde man dezent darauf hingewiesen, dass die D 15 hier durch Gòrda führte.
In seinen ersten Dienstjahren hatte Malbec mit einem älteren Kollegen namens Claudel zusammengearbeitet, dessen Hobby die regionale Sprachkultur gewesen war. So wie andere ihre Freizeit beim Angeln oder Golfen verbrachten, so hatte sich Claudel seit Jahrzehnten mit der Geschichte und den verschiedenen Ausprägungen des Provenzalischen beschäftigt. Und Malbec hatte in den zwei Jahren, in denen er sich ein Büro mit Claudel teilte, gewissermaßen einen diesbezüglichen Crashkurs belegt.
Claudel hatte ihm damals ausführlich erklärt, dass das Provenzalische einer der Hauptdialekte des Okzitanischen sei. Das Okzitanische hatte sich aus dem spätantiken Vulgärlatein entwickelt und im Zeitalter der Troubadours seine größte Blüte erlebt. Es war nicht nur die Sprache des Volkes, es wurde gleichberechtigt mit dem Latein auch als Amtssprache gepflegt.
Wie Claudel ausgeführt hatte, ging das Wortoc auf das lateinischehoc zurück, während sich aus dem im Norden Frankreichs verbreitetenoil das heutigeoui herausgebildet hatte.
Lange Zeit standen beide Sprachgemeinschaften gleichberechtigt nebeneinander; erst die Vernichtung der Katharerkultur leitete den Niedergang des Okzitanischen ein. Zahlreiche Adelige und Mönche strömten damals aus dem Norden Frankreichs herbei, um sich Ländereien und Pfründe zu sichern, und brachten dabei ihre Sprache mit.
Innerhalb weniger Jahrzehnte wurde die