: Christian Wiman
: Mein heller Abgrund Gedanken zum Leben für alle Sterblichen dieser Welt
: Adeo
: 9783863347956
: 1
: CHF 12.50
:
: Spiritualität
: German
: 240
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Mein Gott mein heller Abgrund In den all mein Sehnen nicht gehen will Wieder komme ich an den Rand all meines Wissens Und nichts glaubend glaube ich dies. So beginnt Christian Wimans wilde, wunderschöne, mutige und poetische Pilgerreise nach einer Krebsdiagnose zurück zum Glauben an einen Gott, den er - oder der ihn - aufgegeben zu haben schien. 'Das beste moderne Buch über den Glauben.' New York Times, David Brooks 'Vielleicht braucht jede Generation einen Autor, der vom ausgetretenen Weg abweicht und dadurch den Zugang zum Glauben erneuert, wie es Christian Wiman tut.' Wall Street Journal, David Yezzi

Jahrgang 1966, geboren in West Texas. Autor und Dozent für Literatur und Theologie. Seine Gedichte, Essays und Kritiken erscheinen in verschiedenen Magazinen, darunter der New Yorker.

MEIN HELLER ABGRUND

Mein Gott, mein heller Abgrund,
in den all mein Sehnen nicht gehen will,
wieder komme ich an den Rand all meines Wissens,
und nichts glaubend glaube ich an dies:

***

Hier endet das Gedicht. Besser gesagt, es scheitert. Denn in den Jahren, seit ich diese Strophe geschrieben habe, versuche ich, meinen Weg hin zu seinem Abschluss zu erspüren, zu erzwingen. Doch unser Wille ist für Gedichte generell nicht besonders empfänglich und dieses erweist sich aus ganz offensichtlichen Gründen als besonders störrisch. Als wäre es nicht schon schwer genug, meinen Glauben in Worte zu fassen, scheine ich ihn durch einen einzigen Vierzeiler destillieren zu wollen. Nach wie vor kenne ich so meinen Verstand, dass ich mich vortaste durch den Klang der Worte zu den Vorstellungen, die sie schaffen. Und durch diese zu Ansichten des Lebens, die darüber hinausgehen. Ich habe immer an dieses „Darüber-hinaus“ geglaubt, selbst in den langen Jahren, in denen ich Gott nicht anerkennen wollte. Insofern hatte ich für das Gedicht etwas Ähnliches erwartet. Ich wollte, dass sich vor mir ein Bild auftut, das sowohl meinen wankenden Glauben festigt, sich aber auch darüber hinaus verzweigt, um mehr auszudrücken, als ich selbst sagen kann.

***

Ehrlich gesagt, ich sehne mich derzeit danach, deutlicher auszudrücken, was es ist, das ich glaube. Es ist nicht so, dass ich poetischer Wahrheit müde wäre oder dass ich das Gefühl hätte, sie wäre irgendwie schwächer oder weniger wahr als die Vernunft. Das Gegenteil ist der Fall. Die Inspiration ist für das Denken, was die Gnade für den Glauben ist: sich einmischend, transzendent, sich verändernd, aber auch flüchtig und allzu oft ungewöhnlich. Ein Gedicht kann gleichzeitig seinen Verfasser sowohl von der Existenz tiefer ergriffen machen als auch in erheblicher Weise von ihr entfremden, was es bezogen auf den Akt, ein Ende zu finden – angesichts einer Welt, die Grenzen zu sprengen scheint und letztlich doch bloß wieder zur Welt wird –, sehr schwierig macht, in dem ursprünglichen Moment der Inspiration überhaupt einen Glauben zu bewahren. Schließlich können die Erinnerung an dieses kurzzeitige Auflodern und die Kunst, die davon ausging, zu einem Tadel werden für das feuerlose Leben, in dem man sich die meiste Zeit befindet. Bei der Gnade verhält es sich nicht anders. (Künstlerische Inspirationist manchmal ein Gnadenakt, wenn auch bei Weitem nicht immer.) Gnade zu erfahren, ist das eine, sie ins eigene Leben zu integrieren, etwas ganz anderes. Wonach ich mich momentan sehne, ist aber diese Integration – eine Sprache zu finden, die der transzendenten Natur der Gnade gerecht wird und doch der harten Realität, in der Glaube täglich stattfindet, angemessen ist. Ich sehne mich vermutlich nach der Poesieund der Prosa des Erkennens.

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Als ich jung war, ungefähr zwölf Jahre alt, hatte ich eines Morgens in der Kirche eine „Erfahrung“. Ich setze das Wort in Anführu