Kapitel 1
Als Mira Oltmann auf die Straße trat, fiel ihr die Sandlerin sofort auf und sie konnte nicht verhindern, dass sich ein eigenartiges Kribbeln in ihren Magen schlich. In etwa so, als habe sie eine Spinne verschluckt, die jetzt panisch in ihren Eingeweiden zappelte. Ganz sicher war es dieselbe Frau wie in der letzten Woche! Auch damals hatte die Frau auf dem Bordstein vor dem roten Haus gesessen, als Mira von der Kosmetikerin kam, den Duft der Aloe-Vera-Maske noch in der Nase hatte und die Brauen frisch gezupft waren. Und wie Mira genau darüber nachdachte, glaubte sie sich zu erinnern, dass ihr die Landstreicherin sogar schon in der vorletzten Woche aufgefallen war, an exakt derselben Stelle! Weshalb hockte sie ausgerechnet hier, in dieser stillen Straße? Falls sie betteln wollte, wäre eine belebtere Gegend hundertmal besser geeignet. Mira hasste es, beobachtet zu werden, egal von wem, und diese wildfremde Frau hielt ihren Blick so stur auf sie gerichtet, als gäbe es nichts Interessanteres auf der Welt. Nur mit Mühe zwang sich Mira zur Vernunft, kämpfte ihre Nervosität nieder. Vielleicht wartete die Fremde bloß auf jemanden, und sah lediglich zu Mira, weil sie sich langweilte?
Die Augen hinter der teuren Brille zusammengekniffen – sie sollte mal wieder zum Optiker gehen, sich die Gläser anpassen lassen – musterte Mira die Fremde verstohlen. Eine Frau in ungefähr ihrem Alter, also knappe dreißig. Aber ihr Aufzug hatte nichts von Miras zurückhaltender Eleganz. Kurz geschnittene, dunkle Haare, mit Gel frech nach oben gestylt, eine riesige Sonnenbrille mit violetten Gläsern über den Augen, ein grünglitzernder Strass-Stein in der Nase, dazu ein grünkariertes Männerhemd über an den Knien abgewetzten, nicht besonders sauberen Jeans. Ihre helle Jacke hatte die Fremde achtlos neben sich auf den Gehsteig geworfen.
Was sie wohl für ein Leben führte, fragte sich Mira. Bei der Vorstellung, die Sandlerin könne nachts heimlich im Oltmann’schen Garten schlafen, rann ihr ein Schauer über den Rücken. Sie zog die dünne Jacke enger zusammen. Wie nie zuvor war ihr bewusst, dass das Haus der Kosmetikerin in einer ausgesprochen einsamen Straße lag, am Ortsende von Bayerisch Gmain, dort, wo die Wanderwege zum Dreisesselberg und Rotofen ihren Ausgangspunkt nahmen. Der Gedanke steigerte ihre Panik. Frauen wie diese Fremde waren absolut nicht Miras Fall, schüchterten sie allein durch ihre Anwesenheit ein. Andrerseits, wenn Mira ehrlich war, fühlte sie sich auch in Gesellschaft anderer Frauen nicht besonders wohl. Wie bei ihrer Schwiegermutter zum Beispiel, zu der sie gerade unterwegs war.
Gertrude Oltmanns strengem Blick entging nicht der kleinst