: Ina Jens
: Jürgen Schulze
: Maja Kindheitserinnerungen aus dem Bündnerlande
: Null Papier Verlag
: 9783962810535
: Kinderbücher bei Null Papier
: 3
: CHF 0.90
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: Vorlesebücher, Märchen, Sagen, Reime, Lieder
: German
: 154
: kein Kopierschutz
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Die Autorin schreibt lebhaft und voller warmherziger Erinnerungen über ihre Kindheit in der Graubündener Alpen. Ihre Bücher sind für Kinder geschrieben, die dem Heidi-Alter entwachsen sind. Null Papier Verlag

Ina Jens (1880-1945) war eine Schweizer Schriftstellerin und hieß mit richtigem Namen Claudia Cadisch. Sie arbeitete viele Jahre als Lehrerin. Nach ihrer Heirat mit dem Pädagogen Carl Werkmeister emigrierte das Ehepaar 1907 nach Chile, wo Ina Jens an der deutschen Oberschule in Concepción unterrichtete. Seit den 1920er Jahren veröffentlicht sie unter ihrem Pseudonym Romane und Geschichten, die sich in erster Linie an ein jüngeres Publikum richteten.

Mein Lebensretter und mein Zeugnis


In un­se­rem Dörf­chen gab es eine Som­mer- und eine Win­ter­schu­le. Der Be­such der Win­ter­schu­le war ob­li­ga­to­risch. In die Som­mer­schu­le konn­te ge­hen, wer woll­te. Selbst­ver­ständ­lich be­such­te ich die Som­mer­schu­le, schon aus dem ein­fa­chen Grun­de, weil, wäre ich zu Hau­se ge­blie­ben, ich ta­ge­lang im glü­hen­den Son­nen­bran­de auf end­los wei­ten Wie­sen hät­te Heu nach­re­chen müs­sen.

Au­ßer­dem trieb mich in die­sem mei­nem zehn­ten Le­bens­jah­re ein fast krank­haf­ter Ehr­geiz in die­se Som­mer­schu­le. Ich hat­te näm­lich im ver­gan­ge­nen Jah­re ein sel­ten gu­tes Zeug­nis er­hal­ten, stand doch dar­in, dass ich wäh­rend des Schul­be­suchs »aus­ge­zeich­net flei­ßig« ge­we­sen sei, ein Zeug­nis, das Ge­ne­ra­tio­nen vor mir nie­mand auf­zu­wei­sen im­stan­de ge­we­sen wäre.

»Aus­ge­zeich­net flei­ßig!« Das gan­ze Dorf sprach da­von, näm­lich wenn ein Huhn ein Ei leg­te, sprach auch das gan­ze Dorf dar­über, so in­ter­es­siert wa­ren die lie­ben Mit­menschen da­mals in dem klei­nen Dor­fe. Die­ses Mal wa­ren auch alle merk­wür­dig ei­ner Mei­nung, näm­lich dass ich die­ses Zeug­nis über­haupt nicht ver­dient habe, dass ich ein ganz nichts­nut­zi­ges klei­nes Mäd­chen sei und man den Leh­rer ein­fach nicht be­grei­fen kön­ne. Ich je­doch küm­mer­te mich nicht im ge­rings­ten um die Gift­wor­te, die ich rechts und links zu hö­ren be­kam, son­dern bläh­te mich wie ein Frosch in der Son­ne, sah nur von Zeit zu Zeit in mein Zeug­nis, um mich zu ver­ge­wis­sern, dass das Wört­chen »aus­ge­zeich­net« auch wirk­lich und wahr­haf­tig noch da­stand und nicht etwa plötz­lich wie ein Vo­gel da­von­ge­flo­gen sei. Es stand aber un­ver­rück­bar da, lach­te mich an, ent­zück­te mich, be­rausch­te mich der­art, dass ich den fes­ten Vor­satz fass­te, auch in die­sem Jah­re mir die­ses wun­der­ba­re Prä­di­kat zu ver­schaf­fen, und mit die­sem, wie mir schi­en hei­li­gen Ent­schlus­se be­trat ich die Som­mer­schu­le.

Drei Mo­na­te gin­gen wie im Flu­ge vor­bei. Ich war wäh­rend der gan­zen Zeit ge­ra­de­zu über­flei­ßig und über­auf­merk­sam ge­we­sen. Un­ter al­len Ar­bei­ten stan­den die bes­ten No­ten, und über mein Zeug­nis brauch­te ich mir ge­wiss kei­ne Ge­dan­ken zu ma­chen. Ein zwei­ter Tri­umph, ein zwei­tes »Aus­ge­zeich­net flei­ßig« leuch­te­te lieb­lich wie ein Stern vor mei­ner See­le.

Die letz­te Schul­wo­che war da, und eine große Er­war­tung er­füll­te mich. Ich ging wie auf Ber­ges­hö­hen un­ter mei­nen Mit­schü­lern ein­her, sah in­ner­lich ge­ra­de­zu ver­ächt­lich auf sie nie­der und fühl­te mich gren­zen­los er­ha­ben. Das Sprich­wort von den Bäu­men, die der lie­be Gott nicht in den Him­mel wach­sen lässt, kann­te ich näm­lich nicht.

Es war Don­ners­tag. Am Frei­tag hat­ten wir noch Zeich­nen und Na­tur­ge­schich­te, und am Sonn­abend soll­ten wir un­se­re Zeug­nis­se er­hal­ten. Nun hat­te un­ser Leh­rer ein­mal den Wunsch ge­äu­ßert, wir möch­ten Stech­ap­fel su­chen, eine Pflan­ze, die bei uns sehr sel­ten vor­kam, und die zu fin­den als ein be­son­de­res Ver­dienst des be­tref­fen­den Schü­lers an­ge­se­hen wor­den wäre.

Was lag mei­nem Ehr­geiz nä­her, als alle He­bel in Be­we­gung zu set­zen, um die­se sel­te­ne Pflan­ze zu fin­den! Nach vie­len er­folg­lo­sen Fahr­ten durch Wäl­der, Wie­sen und Fel­der und nach end­lo­sem, ver­geb­li­chem Nach­fra­gen traf ich ei­nes Abends die Schin­der­lie­se, ein als Hexe weit und breit ver­schrie­nes al­tes Weib. So­fort kam mir der Ge­dan­ke, dass sie al­lein mir hel­fen kön­ne. Furcht­los trat ich auf sie zu und frag­te sie nach Stech­ap­fel – und sie­he – die Alte ver­sprach mir das herr­lichs­te Exem­plar, wenn ich ihr da­für ein Körb­chen Pflau­men brin­ge. Ich hät­te ihr in mei­ner Freu­de die Klei­der vom Lei­be ge­ge­ben.

Am Don­ners­tagnach­mit­tag, so ge­gen fünf Uhr, mach­te ich mich auf den Weg ins Schin­der­haus. Der Tag war trü­be und die Ber­ge mit Ne­bel ver­hängt. Das Schin­der­haus lag jen­seits des Flus­ses.

Statt nun den Weg über die hohe stei­ner­ne Brücke zu neh­men, stieg ich den Ab­hang hin­ter dem Dorf hin­un­ter und durch­kreuz­te das wei­te, stei­ni­ge Fluss­bett, zwäng­te mich müh­sam durch das dunkle, dich­te Er­len­ge­büsch und stand end­lich vor dem rau­schen­den Was­ser. Es ging nicht hoch, und über­all stan­den ge­wal­ti­ge Stei­ne, auf de­nen man leicht das jen­sei­ti­ge Ufer er­rei­chen konn­te. An ei­ner Stel­le teil­te es sich so­gar in zwei Arme, die ein klei­nes Stück Land um­spann­ten, und die sich wei­ter un­ten wie­der ver­ei­nig­ten. Ganz mü­he­los sprang ich über das Was­ser und er­reich­te das Schin­der­haus.

Nach un­ge­fähr ei­ner hal­b­en Stun­de kehr­te ich glück­lich mit dem schöns­ten Stech­ap­fel wie­der zu­rück. Ich ging wie im Trau­me. Das Ge­lin­gen nach den vie­len Be­mü­hun­gen, das vor­aus­sicht­li­che Lob des Leh­rers, mei­ne be­son­de­re Stel­lung in der Schu­le – al­les dies be­se­lig­te mich na­men­los.

Un­ter­des­sen war es aber dun­kel ge­wor­den. Ein hef­ti­ger Wind jag­te durch die Er­len, die sich rau­schend bo­gen und mich fast zur Erde war­fen. Als ich an den Fluss kam, woll­te ich mei­nen Au­gen nicht trau­en. Das Was­ser war merk­lich ge­stie­gen und wälz­te sich als eine schwar­ze, dro­hen­de Flut an mir vor­bei. Ich stutz­te wohl einen Au­gen­blick, aber ohne eine Ge­fahr zu ah­nen, sprang ich dort, wo sich das Was­ser teil­te, von Stein zu Stein über den ers­ten Arm hin­weg und stand nun auf fes­tem Bo­den, zu bei­den Sei­ten die schäu­men­den Was­ser. Als ich den zwei­ten Fluss­arm über­sprin­gen woll­te, sah ich plötz­lich, dass es eine Un­mög­lich­keit war. Die Wo­gen schos­sen hoch über den Stei­nen weg. Ein ge­wal­ti­ger Schre­cken er­fass­te mich, und ich ent­schloss mich rasch, wie­der über den an­de­ren Arm zu­rück­zu­keh­ren, aber als ich mich um­dreh­te, sah ich, wie auch dort das Was­ser in den we­ni­gen Au­gen­bli­cken ge­stie­gen war, dass ich nicht mehr zu­rück konn­te. Das Stück­chen Land, auf dem ich stand, wur­de zu­se­hends klei­ner und klei­ner. Ich sah die schreck­li­che Flut auf mich zu­kom­men, und eine ra­sen­de Angst er­griff mich. Mein Stech­ap­fel schoss auf den Wo­gen da­von. Ich sank auf die Knie, sprang wie­der auf, hob die Arme em­por, schrie, schrie wie eine Verzwei­fel­te. Auf der fer­nen Brücke sam­mel­ten sich Men­schen, die mir alle hef­ti­ge Zei­chen mach­ten, dass ich zu­rück soll­te. Die Ent­fer­nung ließ sie die große Ge­fahr nicht er­ken­nen, in der ich schweb­te.

Der Wind jag­te mich fast in die Flut hin­ein. In den Er­len rausch­te es un­heim­lich. Die Wo­gen tob­ten. Aus der fer­nen Schlucht schi­en sich ein Welt­meer über mich er­gie­ßen zu wol­len. Die Leu­te schri­en. Ich schrie, und die Nacht sank im­mer tiefer.

Da – teil­ten plötz­lich zwei Hän­de das Ge­büsch, und ein jun­ger Bur­sche tauch­te am Ufer auf. Mit ei­nem ge­wal­ti­gen Sat­ze sprang er in die Flut von Fels­block zu Fels­block bis in die Mit­te des Was­sers. Dort blieb er, wie ein Fich­ten­baum um­rauscht von den to­sen­den Was­sern, fest ste­hen und reich­te mir eine Hand hin­über, riss mich dann so ge­wal­tig über den Fluss,...