Die Fähre zerteilt die Wassermassen am Bug des Schiffes in schäumend dunkle Wellenkämme. Ich stehe allein auf dem Achterdeck. Der Sturm zerrt an meiner Jacke und schleudert feuchte, braune Haarsträhnen in mein Gesicht. Ich sollte reingehen. Aus dem geheizten Innenraum der Fähre dringt warmes Licht durch die Tropfen auf der Scheibe und lockt meinen durchgefrorenen Körper, aber ich rühre mich nicht. Vielleicht will ich, dass der Sturm mir sowohl die Vorfreude als auch die Angst aus dem Kopf bläst – die ewig ambivalenten Gefühle, hervorgerufen von der maulwurfshügelgroßen Insel, deren Umrisse im Halbdunkel des verhangenen Tages auftauchen. Vereinzelte Lichtpunkte blitzen durch die Dünen der Westküste und markieren die wenigen Häuser, die direkt am Strand liegen. Einer dieser Punkte war früher mein Zuhause.
Ich bin hier geboren, aber meine neue Heimat liegt tausende Kilometer von hier entfernt – in San Francisco. Dort ist es warm, der Himmel meist wolkenlos blau und das Wetter so beständig wie die gute Laune der Menschen dort.
Eine Windbö holt mich fast von den Füßen und hat dabei dieselbe Kraft wie meine Gefühle, die so eng mit Amrum verbunden sind wie das Watt mit der Nordsee.
Da sind die zwiespältigen Empfindungen für meine Mutter und die sehr viel eindeutigeren für Bosse. Sie sind schwarz, dunkel und stärker als der Sturm, der das Regenwasser gegen die Scheiben peitscht.
Ich atme tief durch. Ich bin erwachsen, die Dinge haben sich verändert. Es gibt keinen Grund, so verdammt nervös zu sein.
Obwohl ich weder bei Facebook noch bei Google Einträge über ihn gefunden habe und deswegen nicht sicher sein kann, dürfte Bosse längst in einem Surfcamp auf Tarifa sein, wie er es immer vorhatte. Meine Mutter und ich befinden uns seit Jahren schon nicht mehr in der Mutter-Tochter-Pubertäts-Kampfarena. Wir verstehen uns sogar ziemlich gut. Zugegeben könnte das auch an den zig tausend Kilometern Distanz liegen, die uns bis heute getrennt haben. Das Wichtigste ist aber, dass ich mich verändert habe.
Die Sonne Kaliforniens und Tante Caro haben mich wieder hinbekommen, nachdem ich desillusioniert und am Boden zerstört vor acht Jahren von der Insel geflohen bin. Ich habe mich berappelt. Bin stärker als früher. Und das ist vor allem Tante Caros Verdienst. Sie lebt, seitdem ich zwölf bin, an der Westküste derUSA. Sie hat sich dort ein Leben aufgebaut, ist stark, selbstbewusst und immer für mich da. Dank ihrer Unterstützung habe ich jetzt, mit25, ein Leben, das ich liebe und auf das ich stolz bin.
Allison, meine Mitbewohnerin, meint zwar, ich wäre geradezu manisch, was mein Arbeitspensum angeht, aber sie verzeiht es mir, solange ich ab und an mit ihr auf Beutezug durch die Clubs von San Francisco ziehe. Das hat sich nun vorerst erledigt. Das nächste Visum für dieUSA kann ich frühestens in sechs Monaten beantragen. So lange werde ich hierbleiben. Meine Finger krampfen sich um die Reling. Sechs Monate können lang werden, aber ich schiebe den Gedanken beiseite, dass mich die Vergangenheit einholen könnte. Ich will mich auf Amrum freuen, auf meine Ma, die ich trotz ihrer Macken liebe, auf meine alten Freunde, mit denen ich viel zu lange kaum oder gar keinen Kontakt hatte. Die Insel ist ein Teil von mir, den auch acht Jahre Amer