: Thorsten Nagelschmidt
: Der Abfall der Herzen Roman
: S. Fischer Verlag GmbH
: 9783104906287
: 1
: CHF 10.00
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 448
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
»Wann hast du aufgehört mich zu hassen?« »Als du mir den Brief geschrieben hast.« »Was für einen Brief?« Und er beginnt sich zu fragen, was er noch vergessen hat von diesem Sommer 1999 in Rheine. Damals lebte Nagel in seiner ersten WG, hatte eine Band und seine Freundin und machte sich keine Gedanken über die Zukunft. Dann änderte sich alles, plötzlich, unvorhergesehen. Damals, als sie jung waren, als ein Jahrhundert zu Ende ging und man in den Regionalzügen noch rauchen konnte. Thorsten Nagelschmidt hat einen Roman über einen letzten großen Sommer geschrieben, über Freundschaft und die große Liebe und ihr Zerbrechen, weil man kein Morgen kannte.

Thorsten Nagelschmidt, geboren 1976 in Rheine, ist Autor, Musiker und Künstler. Er ist Sänger, Texter und Gitarrist der Band Muff Potter und veröffentlichte die Bücher »Wo die wilden Maden graben« (2007), »Was kostet die Welt« (2010) und »Drive-By Shots« (2015). Zuletzt sind seine Romane »Der Abfall der Herzen« (2018) und »Arbeit« (2020) erschienen. 2024 wurde »Arbeit« für die Aktion »Berlin liest ein Buch« ausgewählt.
*

Es wurde Sommer. Kurz vor Pfingsten kratzte das Thermometer erstmals an der25-Grad-Marke. Ich ließ mich treiben, und ich ließ mich gehen. Filmrisse, Blackouts, ineinander übergehende und sich gegenseitig auslöschende Tage. Den Wein kaufte ich jetzt kistenweise. Mehr als einmal stellte ich nachmittags fest, dass die keine24 Stunden zuvor beim Aldi erworbene Sechserbatterie Liebfrauenmilch leer war, und ich konnte nur hoffen, dass ich da wen mitverköstigt hatte.

Ich war nun immer öfter mit Sascha unterwegs. Wir trafen uns bei mir oder in der Stadt, setzten uns an die Ems oder zogen ziellos durch die Straßen. Laura und er warteten auf ihre Abiturzeugnisse, und wenn sie zu uns kamen, ging Laura meist direkt rüber zu Richter, während Sascha sich auf mein Bett setzte, mit mir redete, trank und Musik hörte. Eines frühen Abends gingen wir ins Staelskotten-Eck. Wir waren die ersten Gäste und tranken Wodka an der Bar. Der Laden erinnere ihn an die Eckkneipe, aus der er als Kind sonntagmittags seinen Vater zum Essen nach Hause holen musste, meinte Sascha, »damals, als die Kneipe nochWirtschaft hieß«. Die Wirtin nannte er Yvonne. Ich hatte ihm von ihr und ihrem Dackel erzählt, Sascha hatte da was durcheinandergebracht, »Yvonne«, sagte er, »noch zwei Wodka, bitte!«

»Kommt sofort,Waldi«, flötete die Wirtin, knallte die Flasche auf den Tresen, stützte sich mit den Ellbogen ab, sah Sascha in die Augen und hielt ihm die ausgestreckte Hand hin: »Vera, freut mich.«

Wenn Sascha im Emsschlösschen arbeitete, setzte ich mich manchmal an den Tresen und ließ mir von ihm oder Ivo einen Longdrink ausgeben. Ins Louie dagegen setzte ich keinen Fuß mehr, wahrscheinlich hing Timo nun ständig dort ab. Stattdessen ging ich immer öfter in die Trinkhalle, und zwei- oder dreimal fand ich mich im Roxy wieder, das sich direkt über der Trinkhalle befand und nach dem Abbrennen der Trosse die einzige Disco in Rheine war, vom Ü-30-SchlagerschuppenKÖPI mal abgesehen. Wir nannten das RoxyHölle, was sich nicht auf irgendwelche Sündenpfuhlqualitäten bezog, sondern auf die Chartsmusik, das peinlich Ausgelassenheit simulierende Publikum und die allgemeine parfümierte Trostlosigkeit, der man dort ausgesetzt war.

 

Ende Mai begleitete Sascha mich nach Münster. Ich wollte mir ein neues Tattoo stechen lassen, auf die rechte Brust. Das Motiv hatte ich mir selbst ausgedacht und bei Tamara, der Tätowiererin, in Auftrag gegeben: eine Bombe in Herzform, die wie weggeworfen in der Gosse lag. Auf der Bombe standSick Boy, in blutroten Buchstaben, wie reingekratzt. Unten sickerte Blut heraus, es tropfte in den Rinnstein und lief als Pfütze in einen Gulli, der sich ein Stück über dem Solarplexus befinden würde.

»Alter Schwede«, entfuhr es Sascha, als wir im Tattoostudio standen und Tamara mir den Entwurf vorlegte.

»Was ist«, sagte ich. »Too much?«

»Na ja«, sagte Sascha, »Understatement ist das nicht gerade.«

»Na und?«

Wir lachten.Na und? war einMAD-Heft-Wort, wieLechz oderWürg, bei<