: Martin Tietjen
: Selbstrufmord Geschichten, die man eigentlich nicht erzählen sollte
: S. Fischer Verlag GmbH
: 9783104905211
: 1
: CHF 9,00
:
: Biographien, Autobiographien
: German
: 336
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Sich wegschmeißen, fremdschämen und sich wiedererkennen. Martin Tietjen lässt sprichwörtlich die Hosen runter und redet Klartext übers Leben, über die Liebe und was dabei alles schief gehen kann. »Am frühen Morgen machten wir uns auf den Weg nach Hause, ich saß im Nachtbus und erstarrte plötzlich vor Schreck. Ach du Scheiße! Ich hatte meinen Schal bei der Prostituierten im Zimmer vergessen, und mir fiel ein, dass meine Mutter uns Kindern immer den kompletten Namen in die Klamotten stickte, damit wir sie auf Klassenfahrten nicht mit anderen verwechseln konnten. Und so mischte sich das beschwingte Gefühl, endlich keine Jungfrau mehr zu sein, mit der Angst, dass jemand aus dem Paradise Point of Sex bei meiner Mutter zu Hause anruft, weil mein Schal gefunden wurde. Aber - und viel wichtiger noch - auch mit der Erkenntnis, dass Frauen vielleicht doch nicht das Richtige für mich sind und ich mich endlich zu dem bekennen sollte, der ich eigentlich war.«

Martin Tietjen (geboren 1985) ist halb deutsch und halb schwedisch. ?Sein Vater sah ihn als Konzernchef, seine Oma wollte ihn mit dem schwedischen Königshaus verheiraten. Doch Martin Tietjen hat seine eigenen Pläne, an denen er regelmäßig unterhaltsam scheitert. Seine Karriere startete er als Moderator beim Musiksender VIVA, er stand für den Norddeutschen Rundfunk vor der Kamera und ist zur Zeit Backstagemoderator bei RTL (DSDS, Let's Dance, Ninja Warrior).

Kapitel 2Schwuli, Schwuli


»Der wird es einmal einfach in der Schule haben.« Freunde und Bekannte meiner Eltern waren sich bei meiner Zukunft ziemlich sicher. Ich konnte schon sehr früh sprechen, das auch noch sehr viel, stellte ständig Fragen, und wenn ich nicht gerade am Reden war, saß ich irgendwo rum und sang textsicher jedes Kinderlied von Rolf Zuckowski mit. Bestärkt durch die Meinung der anderen, lehnten sich meine Eltern entspannt zurück und freuten sich auf eine sorgenfreie Schulzeit ihres zweiten Kindes. Absolut zu früh gefreut!

 

Die Probleme fingen am ersten Schultag an, als ich mich mit Christian um den besten Platz im Klassenzimmer kloppte. Ab dann wurde es auch nicht wirklich besser. Ich war faul, frech, laut, viel zu ehrlich und hatte ein großes Problem mit Autoritäten. Das alles wäre ja noch verkraftbar gewesen, wenn meine Schulnoten gestimmt hätten. Aber du kannst es dir einfach nicht leisten, aufmüpfig zu sein, wenn du gleichzeitig auch noch dumm bist. Schule war für mich der absolute Horror. Ich habe sie gehasst und einfach nie begriffen: Warum soll ich Sinus, Kosinus und Tangens lernen? Wo wird mir das in meinem späteren Leben irgendwann mal weiterhelfen? Und ja, aus heutiger Sicht kann ich bestätigen, dass ich in keiner meiner Moderationen beim Fernsehen jemals mein gelerntes Wissen über Kurvendiskussionen anwenden konnte. Aber darum geht es ja auch nicht. In den seltensten Fällen lernen wir in der Schule ganz spezifische Dinge für unseren späteren Beruf. Man lernt eher fürs große Ganze. Nur leider habe ich das erst nach meiner Schulzeit begriffen. Damals sah ich nur einen riesigen Berg Arbeit und einen strengen Lehrer vor mir, von dem ich mir nichts sagen lassen wollte.

Vielleicht hätte mir einfach mal einer sagen sollen, dass ich Mathe lerne, um schnell im Kopf zu werden, dass ich in Deutsch aufpassen muss, um schlau und schlagfertig zu sein, und dass ich beim Sport mitmachen soll, um Teamgeist zu entwickeln und um auf dem Dating-Markt später bessere Chancen zu haben. »Du machst das jetzt, weil ich dir das sage« – hat bei mir noch nie wirklich funktioniert.

 

Das letzte Mal, dass ich den großen, tristen Betonplatz meiner Schule betreten habe, ist schon verdammt lange her. Dennoch reicht allein der Gedanke an ihn aus, um bei mir auch heute noch ein mulmiges Gefühl in der Magengegend auszulösen. Denn nicht nur die Schulstunden waren nie so wirklich meins, sondern auch die Pausen. Dort herrschte Krieg. Die Pausenklingel war wie der Startgong eines zwanzigminütigen Boxkampfes ohne Regelwerk und Schiedsrichter, bei dem es hauptsächlich um Klassenerhalt ging. Standing war alles.

Ich war nie der Coole, ich war nie der Loser, ich war irgendetwas dazwischen. Aber allein dieses mittelmäßige Standing zu halten, bedurfte einiges an Arbeit und Voraussicht. Denn die Gefahr, dich mit nur einem falschen Move ins gesellschaftliche Aus zu schießen, war enorm. Setz dich einmal mit ’ner hellen Hose in eine Milchschnitte, und die Ratingagenturen des Schulhofes verpassen dir für die nächsten zwei Monate ein D.

Finde dann noch die falsche Band cool oder kauf dir Fishbone-Sneakers, obwohl Fishbone schon längst durch ist, und du wirst gesellschaftlich so geächtet, dass die Wahrscheinlichkeit, Naddel steigt zum A-Promi auf, größer ist, als dass du auf Klassenfahrt mit den coolen Kids ins selbe Zimmer darfst.

Zwar hatte ich immer ein genaues Auge, was herumliegende Milchschnitten und andere Fettnäpfchen anging, aber dies schützte mich leider nicht davor, auf einer Klassenreise an den