1. KAPITEL
„Ich kann immer noch nicht fassen, dass du wirklich gehen willst. Die ganze Zeit habe ich gehofft, dass du es dir doch noch anders überlegst. Immerhin bist du schon ewig hier.“
Gina Leighton schmunzelte über den klagenden Tonfall ihrer jungen Kollegin Natalie. „Vielleicht gehe ich gerade deswegen. Weil ich schon ‚ewig‘ hier bin, wie du es ausdrückst.“
Dieses „Ewig“ waren erst elf Jahre, seit sie mit einundzwanzig die Universität verlassen hatte. Aber sie gehörte für Natalie offensichtlich zum Inventar der Landmaschinenfirma Breedon & Son, und so sahen es wohl auch alle anderen Mitarbeiter – vor allemer.
„Ich weiß genau, dass ich mit Susan nicht auskommen werde“, erklärte Natalie in trotzigem und zugleich kummervollem Ton. „Sie ist nicht wie du.“
„Du wirst es schon schaffen“, versuchte Gina sie aufzumuntern, auch wenn sie nicht völlig davon überzeugt war. In den vergangenen vier Wochen, während der Einarbeitung ihrer Nachfolgerin, hatte sie immer wieder gemerkt, dass diese Susan Richards keine Dusseligkeit duldete. Nicht, dass man Natalie als ausgemachten Dummkopf bezeichnen konnte. Allerdings war sie gelegentlich ein bisschen schwer von Begriff. Susan tat häufig ihren Unmut darüber kund und ignorierte die Tatsache, dass Natalie sehr fleißig war und keine Mühe scheute.
Doch das alles war nicht mehr Ginas Problem. Denn sie beabsichtigte, das Firmengelände in wenigen Stunden für immer zu verlassen. Darüber hinaus plante sie, schon am kommenden Wochenende von der Kleinstadt in Yorkshire, in der sie geboren und im Kreise von Familie und Freunden aufgewachsen war, nach London überzusiedeln. Neuer Job, neue Wohnung, kurz: Es erwartete sie ein neues Leben.
Sie deutete zu dem Stapel Papiere auf ihrem Schreibtisch. „Ich muss noch ein paar Sachen erledigen, bevor ich den Drinks und Knabbereien frönen kann.“ Ihr Chef gab am späten Nachmittag eine Abschiedsparty für sie, und sie wollte ihren Arbeitsplatz in tadellosem Zustand hinterlassen.
Natalie verzog sich wieder ins Vorzimmer, doch Gina blieb untätig sitzen und blickte sich in dem großen behaglichen Raum um. Seit sie vor vier Jahren zur Chefsekretärin aufgestiegen war, war dies ihr Reich. Durch die Beförderung waren Prestige wie Gehalt und somit auch ihr Selbstwertgefühl beträchtlich gewachsen. Und Dave Breedon war ein guter Vorgesetzter – ein netter Familienmensch mit einem Sinn für Humor, der ihrem entsprach. Aber er war ja auch nicht der Grund für ihr Ausscheiden.
„Kein Sinneswandel um fünf vor zwölf?“
Beim Klang der tiefen Stimme drehte Gina den Kopf zur Tür. „Natürlich nicht“, erwiderte sie äußerlich gefasst, obwohl ihr Herz raste. Schließlich besaß sie viel Übung darin, ihre wahren Gefühle für Harry Breedon, den einzigen Sohn und die rechte Hand ihres Chefs, zu verbergen. Ihre tiefblauen Augen täuschten gelassene Belustigung vor, als sie in das gebräunte markante Gesicht blickte. „Du hast doch wohl nicht im Ernst damit gerechnet, dass die Chance besteht, oder?“
Er zuckte die Schultern. „Darauf gehofft trifft eher zu.“
Ihr Atem beschleunigte sich, obwohl sie schon seit Langem wusste, dass sein Flirten absolut nichts zu bedeuten hatte. „Tut mir leid. Meine Koffer sind schon gepackt.“
„Dad ist am Boden zerstört.“ Harry schlenderte in den Raum, hockte sich auf die Schreibtischkante und fixierte Gina mit einem forschenden Blick aus rauchgrauen Augen.
Sie versuchte zu ignorieren, wie sich der Hosenstoff über seinen muskulösen Schenkeln spannte – und versagte kläglich. „Am Boden zerstört ist reichlich übertrieben. Trotzdem ist es schön zu wissen, dass er mich nicht gern gehen lässt. Aber Susan ist eine sehr fähige Nachfolgerin, wie du weißt.“
Susan Richards – blond, attraktiv und gebaut wie ein Mager-Model – entsprach genau Harrys Typ. In den letzten zwölf Monaten, seit er nach Großbritannien zurückgekehrt war, um seinen Vater nach dessen Herzanfall zu entlasten, kursierten Gerüchte über seine zahlreichen Eroberungen, die angeblich ausnahmslos blond und superschlank waren.
Gina hingegen besaß rote Haare. In der Schule war ihr daher der Spitzname „Karottenschopf“ verliehen worden. Sie selbst zog es vor, ihre leuchtenden Locken als tizianrot zu bezeichnen. Und ihre kurvenreiche Gestalt, zwar durchaus gefragt zu Zeiten von Marilyn Monroe, war inzwischen längst nicht mehr „in“.<