: Najem Wali
: Die Balkanroute Fluch und Segen der Jahrtausende
: Matthes& Seitz Berlin Verlag
: 9783957574961
: 1
: CHF 9.90
:
: Gesellschaft
: German
: 175
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
'Die Balkanroute ist dicht' kann man heute mit kaum versteckter Erleichterung allenthalben hören. Doch die Balkanroute, die seit tausenden Jahren von Menschen bereist wurde, ist nicht dicht, sie war es nie, und sie wird es nie sein. Najem Wali war im September 1976 auf dieser Route mit dem Bus unterwegs. Allerdings nicht auf der Flucht, sondern auf dem Rückweg von Frankreich in seine Heimat, den Irak. Sein Traum, an der Sorbonne Filmregie zu studieren, war geplatzt. Angeregt durch die Flüchtlingsströme bereist Wali abermals die Route und begibt sich im Gebiet zwischen der Türkei und Griechenland an die Nahtstelle zwischen Orient und Okzident. In seinem sehr persönlichen Bericht erzählt er von seinen Eindrücken, seinen Begegnungen mit Vertriebenen, Schutzsuchenden und Zurückgebliebenen und von der bewegten Geschichte der Levante, in der sich seit jeher reicher kultureller Austausch mit blutigen Vertreibungen abwechselten. Die Balkanroute war vieles, nur geschlossen war sie nie, denn so wie Tragödien keine Grenzen kennen, lassen sich auch Träume über Zäune schmuggeln.

Najem Wali, 1956 im irakischen Basra geboren, flüchtete 1980 nach Ausbruch des Iran-Irak-Kriegs nach Deutschland. Er war lange Zeit Kulturkorrespondent der arabischen Tageszeitung Al-Hayat und schreibt regelmäßig u.a. für die Süddeutsche Zeitung, die Neue Zürcher Zeitung, die TAZ und den Spiegel. Er veröffentliche zahlreiche Romane und Erzählungen. Zuletzt erschien sein Roman Bagdad Marlboro (Carl Hanser Verlag), für den er den Bruno-Kreisky-Preis für das politische Buch 2014 erhielt. Heute lebt Wali als freier Schriftsteller und Journalist in Berlin. Markus Lemke, 1965 in Münster geboren, studierte Orientalische Philologie und Islamwissenschaften u. a. an der Ain-Shams-Universität/Kairo. Er lebt als freier Literaturübersetzer und Dolmetscher aus dem Hebräischen und Arabischen in Hamburg.

Der Beginn der Reise


Die Balkanroute … genau genommen hatte ich, noch bevor mir überhaupt der Gedanke zu diesem Buch kam, schon verschiedentlich darüber nachgedacht, mich auf eben dieser Route auf eine Reise zu begeben, so wie sie meine Schwester im Frühling des Jahres 2002 unternehmen musste, wenn auch nicht auf dieselbe Art und Weise oder unter denselben Bedingungen. Denn was mich an erster Stelle interessierte, war, einen – und sei es noch so vagen – Eindruck von dem Weg zu bekommen, den sie zurückgelegt hatte, um dadurch ihre dabei erlebten Strapazen und Leiden besser zu verstehen. Dabei war mir der Unterschied zwischen uns beiden sehr wohl bewusst: Meine Schwester kam aus dem Süden und wollte gen Norden, war geflohen aus der Hölle einer Diktatur. Sie hatte keinen anderen Ausweg für sich gefunden, als sich den Launen und Plänen von Menschenschmugglern anzuvertrauen, die taten, was sie schon immer getan haben (und wer weiß wie lange noch tun werden): Flüchtlinge wie sie über eben jene Balkanroute zu schleusen. Was mich betrifft, so hatte ich selbst gut zwei Jahrzehnte zuvor aus ebenderselben höllischen Diktatur meine Flucht angetreten, um genau zu sein am 28. Oktober 1980. Doch ein Vergleich meiner Flucht mit der ihren ist ein Ding der Unmöglichkeit, selbst wenn auch ich einer Fülle von Gefahren und Risiken ausgesetzt gewesen sein mochte, etwa der, Grenzer könnten unterwegs herausfinden, dass einige meiner persönlichen Dokumente gefälscht waren. Und selbst eingedenk der Tatsache, dass ich ungefähr denselben Weg über den Balkan genommen hatte, den auch sie zurücklegen musste. Doch ich hatte damals auf mich selbst vertraut und nicht auf Schmuggler oder Fluchthelfer, hatte einige der Papiere, die mir helfen sollten, die Grenze zwischen dem Irak und der Türkei zu überwinden, eigenhändig gefälscht. Nach der gelungenen Grenzüberquerung war ich mit der Eisenbahn von Istanbul über Sofia, Belgrad, Budapest und Prag nach Berlin und von dort weiter nach Hamburg gefahren, eine Reise mithin, die einem heute recht komfortabel anmutet im Vergleich zu den Strapazen, die meine Schwester auf der Balkanroute zu überstehen hatte, bis sie schließlich mit dem Flugzeug in Frankfurt landen konnte.