Luca Marcetti
Luca Marcetti eilte leicht schnaufend die Via di Città hinunter, die im morgendlichen Dunst lag, in diesem mystischen Halbschatten der Häuserschluchten, ehe die Strahlen der Mittagssonne für kurze Zeit das unebene Pflaster der alten Stadt streichelten. Er war noch kurz in seinem Büro gewesen, doch dann hatte ihn die Aufregung übermannt: die Verlosung der Pferde, die an diesem wunderschönen Mittwochmittag unter dem saphirblauen Himmel stattfinden sollte. Der Palio, das berühmte Pferderennen im Herzen von Siena, würde mit dieser Zeremonie seinen Anfang nehmen. Sein Herz schlug höher, als er sich dem zentralen, muschelförmigen Platz in Siena näherte.
Luca Marcetti erreichte den Campo, den weiten Platz, der sich plötzlich im gleißenden Sonnenlicht vor ihm öffnete, und ließ seinen Blick über die Menschenmenge schweifen, die sich vor dem gotischen Palast der Stadtverwaltung eingefunden hatte. Vor dem roten Gebäude mit den zierlichen weißen Säulen war eine kleine provisorische Bühne aufgebaut worden, auf der an einem langen wackeligen Holztisch und auf ebenso unsichereren Klappstühlen die Capitani saßen. In hitzigen Diskussionen hatten diese Vertreter der einzelnen Stadtteile in mehreren Proberennen die zehn Pferde ausgewählt, die nun jeden der teilnehmenden Stadtteile bei dem Pferderennen repräsentieren sollten. Marcetti konnte vage seinen Capitano erkennen. Er saß ganz links, seinen Kopf erwartungsvoll nach vorn gebeugt, im Mundwinkel eine seiner eindrucksvollen dicken kubanischen Zigarren, auf der er nervös herumkaute. Marcetti konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, als er seinen Freund bei dieser wichtigen Aufgabe sah.
Mandriani war sein Freund, natürlich hatte er ihn in der Generalversammlung im letzten Herbst zum Capitano gewählt, aber eher, weil zu dem Zeitpunkt niemand sonst zur Verfügung gestanden hatte, der qualifiziert gewesen wäre. Mandriani war beliebt, verstand es, die gespaltenen Lager in seinem Stadtteil wieder zu vereinen, außerdem hatte er als Arzt und Gerichtsmediziner viele Kontakte nach außen. Das war ein immenser Vorteil, denn nur durch geschicktes Manipulieren, durch geheime Kontakte und Absprachen mit anderen Contraden war ein Sieg bei dem Pferderennen inmitten von Siena überhaupt möglich. Marcetti wischte sich einige Schweißperlen von der Stirn und spitzte erwartungsvoll den Mund, als sein prüfender Blick über den Platz glitt. Seitlich neben der Bühne standen in einer Reihe die Pferde in provisorischen Boxen, die nacheinander wie in einer Lotterie verlost wurden. Weiße Nummern an den Flanken verhinderten, dass die edlen Tiere vertauscht oder heimlich ausgewechselt wurden. Nervös schlugen die Pferde mit ihren Schweifen, ließen sich von der Aufregung der vorbeidrängenden Menschen anstecken.
Ein eigenartiges Fieber lag über der Stadt, ein nervöses Pulsieren, das sogar die Touristen ansteckte, die wie jedes Jahr zu dem Palio nach Siena strömten. Luca Marcetti dagegen waren die Touristen völlig gleichgültig. Der Palio war keine Touristenattraktion, es war seit Jahrhunderten ein Wettkampf der einzelnen Contraden um Ehre und Sieg. Unhöflich bahnte er sich einen Weg durch die Menge, die sich vor der Bühne drängte. Er wollte noch näher am Geschehen sein, denn in dem Lärm der grölenden Menge war kaum etwas zu verstehen. Er erreichte den Ort, an dem sich die Mitglieder seiner Contrade versammelt hatten, erkennbar an den gelben Schals mit dem Symbol des doppelköpfigen Adlers, den alle sichtbar über die Schultern drapiert hatten. Aufgeregt machten ihm die Menschen Platz, ließen ihm automatisch den Vortritt oder schlugen ihm wohlwollend auf die Schultern: „Ah, ciao, Luca!“
Luca Marcetti war eine wichtige Persönlichkeit in Siena. Seit Generationen gehörte er dem Hochadel der Toskana an, aber noch wichtiger, zur Prominenz derNobile Contrada dell’Aquila. Stolz flatterte das gelbe Fazzoletto, der Schal mit dem schwarzen Adler auf seiner Schulter, alt und ausgeblichen, ein Zeichen davon, wie oft er schon von seinem Bes