: Vladimir Nabokov
: Dieter E. Zimmer
: Einladung zur Enthauptung
: Rowohlt Verlag Gmbh
: 9783644000704
: Nabokov: Gesammelte Werke
: 1
: CHF 10.00
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: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 272
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
«In Übereinstimmung mit dem Gesetz wurde Cincinnatus C. das Todesurteil im Flüsterton mitgeteilt.» Ein Mann sitzt im Gefängnis, auf die Hinrichtung wartend; er träumt, phantasiert, erinnert sich, schreibt und hat Angst. Das Verbrechen, das er auf dem Schafott büßen soll, ist seine Existenz als Einzelgänger. Der große Erzähler Vladimir Nabokov hat mit diesem frühen Roman eine der bittersten Satiren der Weltliteratur geschrieben.

Vladimir Nabokov wird am 22. April 1899 in St. Petersburg geboren. Nach der Oktoberrevolution flieht die Familie 1919 nach Westeuropa. 1919-1922 in Cambridge Studium der russischen und französischen Literatur. 1922-1937 in Berlin, erste Veröffentlichungen, meist unter dem Pseudonym W. Sirin. 1937-1940 nach der Flucht aus Nazideutschland in Südfrankreich und in Paris, seit 1940 in den USA. 1961-1977 wohnt Nabokov im Palace Hotel in Montreux. Er stirbt am 2. Juli 1977.

Kapitel 1


Wie das Gesetz es vorschrieb, wurde Cincinnatus C. das Todesurteil im Flüsterton mitgeteilt. Alle erhoben sich und lächelten einander zu. Der weißhaarige Richter hielt den Mund dicht an sein Ohr, schnaufte einen Augenblick lang, verkündete das Urteil und machte sich langsam los, als wäre er festgeklebt gewesen. Dann wurde Cincinnatus in die Festung zurückgebracht. Die Straße ringelte sich um ihren Felsensockel und verschwand unter dem Tor wie eine Schlange in einem Spalt. Er war ruhig; während der Wanderung durch die langen Gänge jedoch musste er gestützt werden, da er die Füße unsicher setzte wie ein Kind, das gerade laufen gelernt hat, oder als würde er gleich versinken wie jemand, der geträumt hat, er wandele über das Wasser, und dem plötzlich Zweifel kommen: Ist das denn überhaupt möglich? Rodion, der Wärter, brauchte lange, die Tür zu Cincinnatus’ Zelle aufzuschließen – es war der falsche Schlüssel –, und es fand das übliche Hin und Her statt. Schließlich gab die Tür nach. Drinnen wartete schon der Anwalt. Bis zur Schulter in Gedanken und ohne sein Frackjackett (das er auf einem Stuhl im Gerichtssaal vergessen hatte – es war ein heißer Tag, ein durch und durch blauer Tag) saß er auf der Pritsche; als der Häftling hereingeführt wurde, sprang er ungeduldig auf. Doch Cincinnatus war es nicht nach Gesprächen zumute. Selbst wenn die Alternative die Einsamkeit dieser Zelle mit ihrem Guckloch wie ein Bootsleck war – ihm war es gleich, und er bat darum, allein gelassen zu werden; alle verneigten sie sich zu ihm hin und gingen.

So nähern wir uns also dem Ende. Der rechte, noch ungekostete Teil des Romans, den wir während unserer ergötzlichen Lektüre leicht betasteten, um mechanisch festzustellen, ob noch genug da war (und immer freuten sich die Finger an der gleichmütigen treuen Dicke), ist plötzlich ohne Grund mager geworden: ein paar Minuten schnellen Lesens, bergab bereits, und – O grässlich! Der Haufen Kirschen, eben für uns noch eine Masse von rötlichem und glänzendem Schwarz, ist plötzlich zu ein paar vereinzelten Steinfrüchten geschrumpft: Die Narbige dort ist ein wenig faulig, und jene ist verschrumpelt und um ihren Kern herum vertrocknet (und die allerletzte ist unweigerlich hart und unreif) – O grässlich! Cincinnatus legte sein Seidenwams ab, zog den Schlafrock über, begann fest auftretend in der Zelle herumzulaufen, um dem Zittern ein Ende zu machen. Auf dem Tisch leuchtete ein sauberes Blatt Papier, und von dieser Weiße hob sich deutlich ein wundervoll spitzer Bleistift ab, lang wie das Leben jedes Menschen mit Ausnahme von Ci