KAPITEL 1
»Hatten Sie schon einmal so ein Kribbeln und Taubheitsgefühl?«
Ich versinke in Gedanken. Hatte ich so etwas schon einmal? Was habe ich denn eigentlich gerade? Meine komplette rechte Körperhälfte ist taub und fühlt sich an wie in Watte gepackt. Von außen spüre ich alles, zum Beispiel, wenn mir jemand über die Hand oder den Arm streicht. Aber von innen fühlt es sich anders an. Anders als auf meiner linken Seite. Komisch ist das, und ich kann es kaum erklären. Oder bilde ich mir das nur ein? Ich bin verwirrt. Dazu kribbelt es an einigen Stellen meiner rechten Seite, mal stärker, mal schwächer. Angefangen hat es im rechten Daumen, und dann hat es sich ganz langsam ausgebreitet, von der Hand über das Handgelenk in den rechten Arm, hinauf in die Brust und so weiter bis zum Fuß.
»Das muss auch gar nicht an denselben Stellen gewesen sein. Hatten Sie schon einmal so unspezifische Gefühlsstörungen? Oder etwas anderes, mit dem Sie dann vielleicht beim Hausarzt oder Neurologen waren?«, fragt mich die Ärztin. Sie ist jung, vielleicht sogar jünger als ich. Sie erinnert mich an eine Freundin und ist mir sympathisch. Kurz vor dem Termin mit mir war sie noch schnell eine Zigarette rauchen, das kann ich riechen. Ich sitze mit ihr zusammen, um die MRT-Bilder von meinem Kopf zu besprechen.
»Ja, da war schon mal was«. Ich erinnere ich mich an eine leichte Gesichtslähmung, die mir mal zu schaffen gemacht hatte. »Vor sechs Jahren hatte ich schon mal ein Kribbeln am Trigeminusnerv. Das blieb etwa drei Wochen, dazu habe ich mich sehr schlapp gefühlt, und ich hatte eine Erkältung. Ich war in meinem ersten Praktikum in Hamburg, eine stressige Zeit. Der Neurologe meinte damals, wenn es wieder wegginge, bräuchte ich mir keine Sorgen zu machen. Er erwähnte mal im Nebensatz, dass ich natürlich auch darauf bestehen könne, mich intensiver checken zu lassen. Aber das sei seines Erachtens nach nicht nötig. Nach circa drei Wochen war alles wieder weg, und ich habe mir keine weiteren Gedanken gemacht. Meine Hausärztin meinte etwa einen Monat später, man könne im Blutbild sehen, dass da was nicht stimme. Aber wenn ich schon beim Neurologen gewesen sei, bräuchte ich mir keine Gedanken zu machen.«
Die junge Ärztin schaut mich jetzt mit einem Stirnrunzeln an. Ein Stirnrunzeln von Ärzten ist nie gut, denn das bedeutet, dass irgendetwas für sie keinen Sinn ergibt. Und ist das der Fall, hat das etwas mit einer Krankheit zu tun. Das habe ich in den letzten Tagen gelernt, denn ich habe mich auf Anraten befreundeter Ärztinnen selbst in die Uniklinik Frankfurt eingewiesen, um endlich herausfinden zu lassen, was es mit meinem Kribbeln auf sich hat. Vorher habe ich bereits mehrere Wochen auf einen Termin beim Orthopäden gewartet. Und ohne beim Orthopäden gewesen zu sein, habe ich keinen Termin bei einem Neurologen bekommen, um mich dort checken zu lassen. Aber ich habe gemerkt, dass irgendetwas nicht mit mir stimmt. Um nicht länger im deutschen Kassensystem mit seinen Überweisungen und Wartezeiten gefangen zu sein, packte ich also eine Reisetasche und wurde in der Uniklinik vorstellig, die mich aufgrund meiner Symptomatik direkt zur Abklärung dabehielt.
Jetzt bin ich Patientin der neurologischen Station. Denn irgendetwas ist mit meinen Nerven nicht in Ordnung. Eigentlich wollte ich mir mit meiner Einweisung nur die Bestätigung abholen, dass das K