1. KAPITEL
„Die letzte Buchprüfung ergab leider gewisse Unstimmigkeiten.“
Stirnrunzelnd musterte Jonas den Chef seiner Finanzbuchhaltung über den blankpolierten Schreibtisch hinweg.
Was brachte einen Mann wie Charles Barker dazu, unruhig auf seinem Stuhl herumzurutschen? Er war der Beste seines Fachs. Jonas hatte es sich zur Regel gemacht, nur Spitzenkräfte einzustellen. Versager hatten bei ihm keine Chance. Unter Barker funktionierte das Rechnungswesen so reibungslos wie eine gut geölte Maschine.
„Handelt es sich um etwas Gravierendes?“
Barker schüttelte den Kopf. „Gesamtwirtschaftlich gesehen nicht.“
Angesichts eines Firmenkapitals in Milliardenhöhe war dies eine beruhigende Auskunft. Dennoch beschlich Jonas ein ungutes Gefühl, als er sah, wie sein Finanzchef nervös seine Krawatte lockerte.
„Spucken Sie’s aus, Charles.“
Verkrampft lächelnd schob Barker seinen Laptop über den Schreibtisch.
„Hier, sehen Sie selbst. Die oberen beiden Zeilen.“
Jonas las. Eine Barauszahlung über mehrere tausend Pfund. Darunter eine weitere, diesmal über einen noch höheren Betrag. Nähere Angaben fehlten.
„Was hat das zu bedeuten?“
„Jemand hat Geld von Ihrem Anlagekonto abgehoben.“
Jonas’ Miene verdüsterte sich. Er benutzte dieses Konto nicht für Firmengeschäfte, sondern nur für private Investitionen größeren Umfangs.
„Wir sind der Sache nachgegangen.“ Natürlich. Auf Barker war Verlass.
„Und?“, fragte Jonas gespannt.
„Wie Sie wissen, war das Konto früher ein Gemeinschaftskonto.“
Wie hätte Jonas das jemals vergessen können? Sein Vater, Piers, hatte sich immer als der große Seniorchef der Firma aufgespielt. Dabei hatten sie beide gewusst, dass es allein Jonas’ Geschäftssinn und Ehrgeiz zu verdanken war, dass sich die schwer angeschlagene Investmentfirma wieder am Markt etabliert hatte. Piers war lediglich auf der Erfolgswelle mitgeschwommen. Bis sich die Wege von Vater und Sohn getrennt hatten.
„Ja, ich weiß.“ Bitterkeit schwang in Jonas’ Stimme mit.
Barker wand sich vor Unbehagen. „Es wurde ein altes Scheckheft Ihres Vaters benutzt. Eigentlich hätten alle gesperrt sein müssen, aber dieses eine …“
„Schon gut, verstehe.“ Jonas ließ den Blick über das Londoner Geschäftsviertel schweifen, das er von seinem Büro aus überblicken konnte.
Vater. Er hatte vor langer Zeit aufgehört, ihn so zu nennen. Seit er herausgefunden hatte, dass Piers Deveson trotz seines scheinheiligen Geredes von Anstand und Familientradition alles andere als ein Ehrenmann war. Es überraschte Jonas nicht weiter zu erfahren, dass der alte Mann zu guter Letzt noch einen Weg gefunden hatte, sich am Geld seines Sohnes zu vergreifen. Ein Wunder, dass er es nicht schon früher getan hatte.
„Dann hat Piers …“
„Nein!“ Charles Barker setzte sich kerzengerade auf. „Wir haben Grund zu der Annahme, dass nicht Ihr Vater das Geld abgehoben hat. Hier, bitte.“
Beide Schecks trugen die Unterschrift von Piers Deveson. Nur dass es sich dabei um Fälschungen handelte. Gut genug, um einen Fremden zu täuschen, aber nicht Jonas.
„Beachten Sie das Ausstellungsdatum.“
Als Jonas es las, war er wie vor den Kopf geschlagen. Die Vorstellung, sein Vater hätte sein Konto geplündert, war schlimm genug, aber dies …
„Wie Sie sehen, wurde der zweite Scheck einen Tag nach dem Tod Ihres Vaters ausgestellt.“
Fassungslos schüttelte Jonas den Kopf. Das Datum hatte sich in sein Gedächtnis eingebrannt, und das nicht nur, weil es noch nicht weit zurücklag.
Jahrelang war ihm sein Vater ein Dorn im Auge gewesen. Er hatte es als Schande empfunden, wie Piers Deveson und seine hinterhältige Geliebte in Saus und Braus zusammenlebten. Wie sie sich ungeniert in der Glitzerwelt der Reichen und Schönen tummelten, ohne sich darum zu kümmern, wen sie damit verletzten.
Die Nachricht vom Tod seines Vaters hatte keinerlei Regung in ihm ausgelöst. Keine Trauer. Keine Erleichterung. Nur Leere. Doch nun, Wochen später …
„Es war also nicht mein Vater?“
„Nein, aber wir haben die Betrügerin identifiziert. Sie hat sich ja nicht allzu schlau angestellt.“ Barker schien die peinliche Angelegenheit schnell hinter sich bringen zu wollen. „Es ist eine Ms Ruggiero, gemeldet unter der Adresse Ihres Vaters in Paris.“ Er reichte Jonas einen Zettel mit der Anschrift des Luxusapartments, in dem Piers sich mit seiner Geliebten vor sechs Jahren eingenistet hatte.
„Diese raffgierige Person will die Familie also weiterhin ausnehmen.“ Jonas’ kühlem, emotionslosem Ton war nicht anzumerken, wie sehr es in ihm brodelte.
Glaubte diese Frau im Ernst, er ließe sie ungeschoren davonkommen? Nach allem, was sie seiner Familie angetan hatte? So dumm konnte sie doch nicht sein!
Er sah sie vor sich, als wäre es gestern gewesen. Silvia Ruggiero, die Frau mit den reizvollen Kurven, dem feurigen Blick und den schwarzen Locken, die damals als Haushälterin bei den Devesons gearbeitet hatte.
Purer Sex, hatte einer seiner Freunde sie beschrieben. Wie wahr! Nur Wochen später hatte Jonas’ Vater seiner Familie, seinen Verpflichtungen und seinem ehrenwerten Leben den Rücken gekehrt und war mit seiner Haushälterin nach Paris durchgebrannt.
Vier Monate darauf war Jonas’ Mutter tot aufgefunden worden, gestorben an einer Überdosis Schlaftabletten. Ein Unfall, wie es hieß, doch Jonas wusste es besser. Seine Mutter hatte sich das Leben genommen.
Das Atmen fiel ihm schwer, auf seiner Brust lastete ein unerträglicher Druck. Die Frau, die für den Tod seiner Mutter verantwortlich war, hatte erneut zugeschlagen. Wie unverschämt von ihr, zu glauben, sie könne die Familie noch über Piers’ Tod hinaus schröpfen!
Zornig zerdrückte er das Stück Papier in seiner Faust und spürte, dass jeder Muskel seines Körpers angespannt war.
Seit sechs Jahren schwelte der Wunsch nach Rache in ihm. Bisher hatte er ihn unterdrückt, sich in die Arbeit gestürzt und jeden Kontakt zu seinem Vater und dessen skrupelloser Gefährtin vermieden.
Doch dieser Scheckbetrug war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.
„Überlassen Sie alles Weitere mir, Char