Die Türkei und Europa
Seit dem 17. Dezember 2004 steht fest, dass mit der Türkei Verhandlungen über ihren Beitritt zur EU aufgenommen werden. Wir brauchen uns also nicht mehr darüber zu unterhalten, ob das sein darf oder nicht. Genausowenig steht in Frage, dass der Islam nicht nur als Religion, sondern auch als Kultur und als Lebenspraxis längst in Europa angekommen ist. Es leben bereits an die 10 Millionen Muslime in Europa, ob uns das zu Gesicht steht oder nicht. Es kann also nur mehr darum gehen, sich zu überlegen, wie man mit diesen Muslimen lebt. Darüber sind Tausende von Artikeln, Essays und Reportagen geschrieben worden, so dass man meinen müsste, es wäre alles klar, man wüsste Bescheid und könnte darangehen, die Vorschläge in die Tat umzusetzen. Dem ist aber nicht so, wie an den meist negativen Reaktionen aus der Bevölkerung abzulesen ist.
Was ist also falsch gelaufen? Was hindert die Menschen daran, in der Türkei nicht nur einen strategischen Partner zu sehen (dem man vor allem übelnimmt, dass die Amerikaner ihn in die EU hineinreklamieren), sondern auch einen wirtschaftlichen und kulturellen, dessen Akzeptanz die einmalige Chance bedeuten könnte, mit dem Islam, besser gesagt, mit einem muslimischen Land in der EU zu leben und die Hardliner auf beiden Seiten Lügen zu strafen, die da behaupten, Orient und Okzident seien keinesfalls miteinander kompatibel. Allerdings wäre das ein Vorhaben, für dessen Gelingen auch Europa einiges an visionärer Energie freisetzen müsste, denn so wenig man Kreuzzüge gewinnen kann (das zeigt die Geschichte und das zeigt die irakische Gegenwart), so sehr hilft man sich und anderen mit Ideen, Aufmerksamkeit und Entgegenkommen.
Die Frage, die man sich wohl immer wieder stellen muss, noch bevor man über die Möglichkeiten der Integration spricht, ist die, welche Art von Europa wir überhaupt wollen. Adolf Muschg, der Schweizer Schriftsteller und Essayist, hat in einer seiner Vorlesungen zum Thema ›Was ist europäisch?‹, die er auf Einladung des Kulturwissenschaftlichen Instituts in Essen gehalten hat, Folgendes zu denken gegeben: »Europa wird einkulturelles Projekt, oder es wird sich auch politisch nicht halten lassen. Die wirtschaftliche Logik vermag keine der Kräfte freizumachen, die eine Kohäsion jenseits der Prosperität und auch ohne sie, ja sogar im Notfall sichern. Ich betrachte Europa als exemplarischen Testfall, ob es einer national und regional fundierten, aber auch entsprechend geteilten Gesellschaft gelingen kann, eine gemeinschftlich bestimmte Größe zu entwickeln, die der planetarischen Gesellschaft den Beweis ihrer Möglichkeit liefert.« Genau das wäre es, wofür die bereits erwähnte visionäre Energie vonnöten ist.
Dass es in der Türkei enorme, ja geradezu unglaubliche Anstrengungen gegeben hat, die Kriterien zur Verhandlungsaufnahme zu erfüllen, hat sich herumgesprochen. Das heißt unter anderem, dass der Wille der Türken, zu diesem Europa zu gehören, groß ist und dass den meisten Türken die Bringschuld bekannt ist, die für eine Aufnahme zu entrichten ist. Natürlich dauert es noch, dieses Land tatsächlich europakompatibel zu machen, aber wer hätte 1950 in einem Europa, das sowohl physisch wie psychisch noch voller Kriegsschäden war, geglaubt, dass die damals erst vage angedachte Vereinigung im Jahr 2005 bereits 25 Mitglieder zählen würde, von denen alle der Meinung sind, sie hätten in irgendeiner Weise von dieser Vereinigung profitiert (bis auf die Österreicher, die sich dessen noch immer nicht sicher zu sein scheinen). Robert Schuman, damaliger französischer Außenminister, formulierte es 1963 so: »Wir müssen das geeinte Europa nicht nur im Interesse der freien Völker errichten, sondern auch, um die Völker in diese Gemeinschaft aufnehmen zu können, wenn sie von den Zwängen, unter denen sie leiden, befreit um ihren Beitritt und unsere moralische Unterstützung nachsuchen werden.«
Weder Wertorientierungen, seie