: Georgi Gospodinov
: 8 Minuten und 19 Sekunden Erzählungen
: Droschl, M
: 9783854209836
: 1
: CHF 13.50
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 144
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Menschenliebe, Schlitzohrigkeit und Weltuntergang: neue Erzählungen des bulgarischen Melancholikers: In Georgi Gospodinovs Erzählungen begegnen wir hinterwäldlerischen Dorfbewohnern auf dem südlichen Balkan, einem Kind, das nacheinander verschiedene Väter adoptiert, einem Autor, der ganz Lissabon nach einer unbekannten Schönen absucht, und zahlreichen simplen oder auch raffinierten Ehebrüchen; einige Geschichten werfen Blicke in die kommunistische Vergangenheit des Landes und andere in die Zukunft der Menschheit. Wie in der Titelgeschichte die Zeit, die das Licht von der Sonne zur Erde braucht, gerade das bisschen Zeit ist, die der Autor dem Leser zur Lektüre des Textes einräumt, so lauern in vielen Texten Gospodinovs Weltuntergangsgedanken, Sorgen und Trauer um die Unzuverlässigkeit der Menschen. Verspielt, elegant und mit allen Wassern der Postmoderne gewaschen, breitet Gospodinov eine Welt vor uns aus, wie wir sie aus seinen beiden Romanen schon kennen - eine Welt, die zwar detailgenau und oft sehr komisch diesseitig ist, aber dennoch mehr den Einfällen und Eskapaden der Phantasie als den Gesetzen der Realität folgt.

Georgi Gospodinov wurde 1968 in Jambol in Bulgarien geboren, studierte Bulgarische Philologie in Sofia, redigierte eine Literaturzeitung und arbeitet am Literaturinstitut der Bulgarischen Akademie der Wissenschaften. 1992 debütierte Gospodinov mit dem Lyrikband 'Lapidarium'; eine Auswahl aus seinen Gedichtbänden ist 2010 auf deutsch erschienen, 'Kleines morgendliches Verbrechen'. Er veröffentlichte Erzählungen, Drehbücher, Essays und eine graphic novel; von seinem 'Natürlichen Roman' (1999) liegen mittlerweileÜbersetzungen in 23 Sprachen vor (deutsch bei Droschl 2007), und über seinen zweiten Roman 'Physik der Schwermut' (Droschl 2014) schrieb die NZZ: »Gospodinow katapultiert sich selbst in die erste Liga europäischer Autoren mit einem Buch, dessen ebenso komplexer wie komischer ?Teilchenphysik der Trauer? kaum mehr mit Kritik, sondern nur noch mit Begeisterung beizukommen ist.« Gospodinov war Gastautor des Berliner Künstlerprogramms des DAAD 2008, Fellow am Wissenschaftskolleg in Berlin (2012) und hatte im Sommersemester 2015 die Siegfried Unseld Gastprofessur an der Humboldt-Universität inne.

8 Minuten und 19 Sekunden

In der Minute, in der du diesen Text zu lesen beginnst, kann die Sonne bereits erloschen sein, du weißt es nur noch nicht. Dir bleiben noch 8 Minuten und 19 Sekunden, bis dich die Nachricht von ihrem Tod erreicht. So lange braucht das Licht auf seinem Weg. Danach wird es dunkel. Bis hier sind 9 Sekunden vergangen. Was kannst du tun? Schnell, pack die wichtigsten Dinge zusammen, Telefon, Geld, Pass. Warte mal, willst du verreisen? Vergiss das Gepäck. Ruf deine Familie und Freunde an, sie wissen es noch nicht. Verkünde das Ende der Welt und erzähl von den geschenkten (mittlerweile weniger als 7) Minuten, von denen sie nichts ahnen. Sag ihnen, sie sollen sich sofort auf den Weg machen, wenn sie in der Nähe sind … wohin … einfach zusammen sein … keine Chance in 7 Minuten. Sie sollen bleiben, wo sie sind, und sich unter dem Tisch verstecken. Alles Quatsch. Ich habe keine Erfahrung mit dem Erlöschen der Sonne. Das ist nicht so, wie wenn der Strom ausfällt. Sag ihnen, dass du sie liebst und ihr euch auch im Dunkeln finden werdet. Was noch? Du würdest gern deine Lieblingsspeisen ein letztes Mal probieren, aber die Zeit reicht nur noch für ein Löffelchen Kirschkonfitüre aus dem Kühlschrank. Die Katze hat sich irgendwo verkrochen. Sie weiß es auch. Du öffnest das Fenster. Draußen vergeuden die Menschen die letzten Minuten Sonnenlicht. Du würdest am liebsten schreien. Verflucht, seht ihr denn nicht, dass das Licht nicht mehr dasselbe ist?! Du tust es nicht. Und was dann? Stieben die Planeten auseinander, laufen die Ozeane über, bricht ein ewiger arktischer Winter herein? Und passiert es sofort, oder haben wir noch ein bisschen Zeit? Noch ein paar Minuten, eine Stunde in undurchdringlicher Dunkelheit? Bist du noch hier? Lass uns zusammen die letzten Sekunden herunterzählen – dreizehn, zwölf, elf (ich schreibe sie absichtlich aus, um es in die Länge zu ziehen), zehn, neun, acht, sieben, sechs, fünf, vier, drei (halt dich fest und leb wohl, falls wir uns danach nicht wiedersehen), zwei, eins

Wenn du den nächsten Satz liest, heißt das, die Sonne ist nicht erloschen. Nicht diesmal. Wann dann? Wir werden es genau 8 Minuten und 19 Sekunden später erfahren. Jetzt sind es schon weniger. Nachdem du bereits eine Apokalypse überlebt hast, kannst du es dir erlauben, die Sekunden Sonnenschein zu zählen. Und in den übrigen acht Minuten ein Auge auf diese Geschichte zu werfen. Ich habe sie so geschrieben, dass sie rechtzeitig zu Ende ist.

Eine Wolke verdeckte langsam den Himmel. Würde es Regen geben, oder war das das Ende? Diese präapokalyptischen Tage waren unbeschreiblich. Chaos, Getöse, umherirrende Tagediebe, Familien, die ihre Sachen packen, als könnten sie irgendwohin. Ein sonderbarer Jahrmarkt der Eitelkeiten, ein Bild wie aus dem vorletzten Jahrhundert, Thackeray, Dickens, Schreie, Verkehr, Stimmengewirr, echte Belebung vor der bevorstehenden Friedhofsruhe. Und trotz der vorangegangenen, nicht eingetretenen Vorhersagen (ganze zwei erfolglose Anläufe für eine Apokalypse) schien jetzt alles immer überzeugender dorthin zu führen, zum Ende. Man konnte es auch nicht mehr verheimlichen. Sogar der Auftritt zweier globaler Veteranen, des bereits ergrauten Mister Obama und Frau Merkels, dieser eisernen Alten, brachte keine merkliche Veränderung. Beide versprachen, das Ende der Welt würde möglichst lange kontrolliert aufgeschoben werden. »Ein kontrolliertes Ende der Welt«, lächerlich. Apokalypse tröpfchenweise.

Alles erwartete den Sonnenuntergang des letzten Tages, so hatte ihn die Straße getauft. Es hieß, der Sonnenuntergang selbst sei von unmenschlicher Schönheit, wie Euthanasie, eine Narkose, nach der das Ende kommt. Es gab natürlich auch Skeptiker, die bereits einige aufgeschobene Apokalypsen überlebt hatten. Leute, die eher gelangweilt waren von der Unendlichkeit, die sich so in die Länge zog. Im Großen und Ganzen hatte man langsam die Nase voll, und das Leben auf der Erde war auch nicht mehr so verlockend. Wie dem auch sei, am vorhergesagten Tag hatte sich jeder, ob aus Gewohnheit oder aufgrund eines noch vorhandenen Instinkts, die Mühe gemacht, sich in einem Luftschutzraum aus dem vorigen Jahrhundert zu verstecken oder zumindest im Keller einzusperren. Die Reichen in speziellen Kapseln unter der Erde.

D. J. hatte beschlossen, im Städtchen Z. auf das Ende zu warten. Er kam früher, um noch ein bisschen durch die alten Straßen zu streifen, sich ein wenig an dem Tohuwabohu zu ergötzen. Sein ganzes Leben lang h