: Mela Hartwig
: Das Verbrechen Novellen und Erzählungen
: Droschl, M
: 9783854208808
: 1
: CHF 14.40
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 304
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Zum ersten Mal alle erhaltenen Erzählungen von Mela Hartwig in einem Band. Nachdem sie einige Jahre zuvor bereits als Schauspielerin Karriere gemacht hatte, betrat Mela Hartwig 1928 die literarische Bühne mit einem von Alfred Döblin und Stefan Zweig empfohlenen Erzählband, Ekstasen, der von den Zeitgenossen höchst zwiespältig aufgenommen wurde. 'Außerordentlich quälend und unerfreulich' seien ihre Stoffe, Zeugnisse eines 'durch die Psychoanalyse verjauchten Gehirns'. So wurden dann auch (bis auf den Roman Das Weib ist ein Nichts, 1929) ihre weiteren Werke nicht mehr zum Druck angenommen: die Kurzgeschichtensammlung Quer durch die Krise ist bis heute verschollen und der Roman Bin ich ein überflüssiger Mensch? blieb bis lange nach ihrem Tod unveröffentlicht. In diesem Band sind zum ersten Mal alle Erzählungen von Mela Hartwig gesammelt: die Novellen aus dem berühmten Erstling Ekstasen, andere Erzählungen aus deren Umfeld (z. T. nur im Nachlass vorhanden), die 1936 in einem französischen Exilverlag gedruckte Novelle Das Wunder von Ulm und die einzige nach 1945 noch erschienene Prosaveröffentlichung Georgslegende. Wie wenige andere Autoren steht Mela Hartwig zwischen den Polen des Expressionismus, mit seiner überreizten Sinnlichkeit und seinen stilistischen Neuerungen, und der nüchternen Beschreibungskunst der Neuen Sachlichkeit. Immer aber behandelt sie unerschrocken, mit großer Kunstfertigkeit und gestaltender Intelligenz schmerzhafte und daher gerne verschwiegene Themen; keine Autorin hat in ihren neurotischen Frauenfiguren solche Weiblichkeitsentwürfe gewagt, keine hat aber auch wie sie die sozialen Realitäten ihrer Zeit, Arbeitslosigkeit und mörderischer Antisemitismus, gestaltet.

Das Verbrechen


Drei Tage lang schloß Agnes sich ein, nahm weder Speise noch Trank zu sich und spielte mit dem Gedanken, zu sterben. Sie verbrachte diese Zeit in einem Dämmerzustand des Bewußtseins, der jede ihrer Bewegungen lähmte und ihr Leben unter der Unwirklichkeit eines überreizten Willens begrub; Dunkelheit verkleisterte die Fenster, verklebte ihre Augen, wälzte Schatten und ein Chaos von Geräuschen ohne Sinn über ihr Bett hin, eine Gewitterwolke aus Angst, Dunkelheit und Tod, die sich immer tiefer auf sie herabsenkte, die farblosen Wände ihres verfinsterten Zimmers drängten sich immer enger um sie zusammen, wie ein Grab, bis ihr Atem nur mehr stoßweise und behindert von dem Alpdruck ihrer Vision durch ihren vertrockneten Kehlkopf rasselte.

Am vierten Tag wurde die Tür aufgebrochen, und mitten in der Helle des hereinstürzenden Tages stand ihr Vater vor ihren geblendeten Augen, die blicklos vor Entsetzen in sein verschlossenes Gesicht starrten, das von der Drohung ihres Entschlusses nicht im mindesten beunruhigt schien und das ihr die Furcht des Augenblickes in ein widerliches Grinsen verzerrte.

»Sie lebt«, schluchzte ein ältliches Mädchen, das nicht gewillt war, sich die Sensation dieses Augenblickes durch den Mangel an einer Leiche verkümmern und sich um das Recht ihrer Tränen prellen zu lassen. »Sie lebt.«

Ruhig und mit einem Mangel an innerem Entgegenkommen, der eindeutig die Absicht verriet, die exzentrische Stimmung zu zerreißen und durch eine Banalität lächerlich zu machen, ordnete der Herr des Hauses an: »Öffnen Sie die Fenster. Diese eingesperrte Luft verursacht Übelkeiten und Halluzinationen.«

Widerwillig und mit umständlicher Gewissenhaftigkeit zugleich kam das Mädchen dieser Aufforderung nach. Sie begriff, daß es um ihren eigenen Anteil an diesem Ereignis ging, daß man ihr ein Erlebnis entreißen wollte, das ihr zukam, daß man ihr Recht, Anteilnahme zu bezeugen, verkürzen wollte, und ihr Optimismus, von dieser Erkenntnis beunruhigt, wollte sich noch einige köstliche Augenblicke in diesem geheimnisvollen Zimmer sichern.

Der Chauffeur, der das Zimmer aufgebrochen hatte, und die Köchin hatten sich längst entfernt, das Schweigen im Zimmer wurde unbehaglich, während sie an den Schnüren der Vorhänge bastelte, die ihre Hände, ihr zu Gefallen, nur immer mehr verwirrten, bis eine ungeduldige Stimme ihr Zögern zu ihren Ungunsten entschied: »Sie können gehen.«

Aber während sie sich mit einem übermenschlichen Entschluß anschickte, diesem gefühllosen Befehl nachzukommen, auf die Lösung dieses Rätsels bis auf weiteres heroisch zu verzichten, als sie die Hand schon an die Klinke gelegt hatte, in ihr Schicksal ergeben, und nur noch eine stumme, schüchterne Sympathiekundgebung für das Fräulein wagte, die sich als ein zierlicher Knicks manifestierte, richtete sich Agnes plötzlich auf und schrie mit einer schrillen Stimme, die sich vor Angst überschlug und dem Mädchen das Blut in den Adern wollüstig gerinnen machte: »Bleiben Sie hier, Cilli, bleiben Sie hier.«

Aber ohne das geringste psychologische Verständnis für subjektives Zeitempfinden, das dem Mädchen diesen Augenblick zu einem Menschenalter der Genugtuung, aus Entsetzen, Grauen und Glück gemischt, zerdehnte, ohne Würdigung für den Konflikt des Gehorchens, in den sie geraten war, stand der Herr auf, schob sie ruhig, aber entschieden und ohne ein Wort zu verlieren zur Tür hinaus und schaute ihr rücksichtslos nach, bis sie in der Küche verschwand.

Dann schlug er die Tür krachend ins Schloß, daß Agnes aus der wohltätigen Betäubung einer beginnenden Ohnmacht aufschreckte, und begann ruhig sachlich das Verhör: »Was soll das heißen? Was bezweckst du damit?«

Agnes fühlte unbestimmt, daß das helle, nüchterne Licht des Tages ihn in den Vorteil setzte, daß es seine Sachlichkeit begünstigte, und bat: »Schließe die Vorhänge, d