Saal II
Aus dem Zyklus »Geheimnisse«.
Inhalt einer Damenhandtasche, gefunden am Unfallort
Interview mit Wladislawa Matusewytsch,
geführt von Daryna Hoschtschynska
Die erste Einstellung sieht so aus (sehr sympathisch!): Zwei Frauen, eine Blonde und eine Brünette, sitzen am Bistrotischchen eines Sommercafés in der Chreschtschatyk-Passage, beide stilvoll, elegant, mit bloßen, gebräunten Schultern, es ist Ende August, Ende der Urlaubszeit, im Hintergrund läuft ein Ober in weißer Jacke geschäftig mit einem unbestimmten, geheimnisvollen Halblächeln verschwiegener Allwissenheit umher, das allen Kiewer Obern eigen ist und sie indischen Göttern ähneln lässt (in Wirklichkeit verdeckt es ausschließlich ihre Unbeholfenheit und die Furcht, auf einen ungewöhnlichen Gast zu treffen – in diesem Fall die Fernsehkamera auf der Terrasse). Einen wunderbaren Lichteffekt ergibt das von der Sonne vergoldete und schimmernde Haar der Blonden, das heißt, dank dieses Effekts erscheint sie blond, tatsächlich ist sie eher rothaarig, nun gefärbt im Farbton reifen Weizens, doch es passt, denn ihr blasses Gesicht mit dem maskulinen Grübchen am Kinn würde sich bei ihren feinen, vogelartigen Gesichtszügen trotz der auffällig weit auseinander liegenden Augen ohne diese prächtige Mähne in der Menschenmasse verlieren, so ist die Tönung goldrichtig, kein Wunder, schließlich ist sie Künstlerin. Im Vordergrund, auf dem Bistrotisch, glänzt ein ebenso hübscher Farbtupfer: ein von rubinrotem Wein erleuchteter Kelch, ein schlankes Bierglas mit einem fröhlichen Schaumkäppchen, als weiteres Ornament eine Packung »Eve Slim«, der Buddha in der weißen Jacke bringt noch einen sauberen Aschenbecher, der eher einer flachen Schale ähnelt, nur leider schwarz, er wird an den Rand gerückt, nein doch besser auf den Nebentisch verbannt, weil er zu sehr Blickfang wäre, einverstanden? … Okay, dann los!
»Wladislawa, wir kennen uns schon so lange« (beide lächeln jenes verschwörerische Lächeln von Frauen, die mit ihrem Alter kein Problem haben, die dieses gewisse Etwas haben, das Männer nicht verstehen und nervös werden lässt), »dass ich dich auch im Fernsehen duzen kann – worauf ich übrigens sehr stolz bin. Lass dir zuerst zu dem ganz außergewöhnlichen Erfolg, speziell für einen ukrainischen Künstler, gratulieren: Du hast für deine Werkausstellung den Preis der Fondation Nestlé pour l'Art erhalten – verbessere mich bitte, wenn ich mich irre – in Zürich?« (»In Zürich, Bern, Genf und Lausanne« präzisiert die Blonde im geschäftsmäßigen Tonfall eines Menschen, der sich schon lange an spektakuläre Erfolge gewöhnt hat.) »Entschuldige, da siehst du die Möglichkeiten ukrainischer Journalisten: so gut wie alle Informationen über die Kulturszene des Auslands haben wir aus zweiter Hand« (»Wenn nicht aus dritter«, wirft die Blonde ein, – »Vollkommen richtig, wenn nicht aus dritter Hand!« ereifert sich die Interviewerin schon etwas zu sehr, und beide lachen wieder, doch dieses Mal giftig, mit kollegialer Empörung, hinter der ein langjähriger Gleichklang von Ansichten und Vorbehalten gegenüber dem eigenen Land durchklingt). »Das lässt sich leider gerade nicht ändern, erzähl bitte selbst von dir, damit wir im Bilde sind …«
»Erinnerst du dich noch an die alte sowjetische Anekdote«, fragt die Blonde, rückt an das Tischchen und schiebt den ganzen Körper mit einer leicht schwingenden Bewegung nach vorne, als federe sie von unten nach oben, wie ein Wiesel oder eine Katze, die gerade zum Sprung ansetzt, gleich darauf zoomt der Kameramann die energischen, markanten Züge ihres Vogelgesichtchens mit dem Grübchen am Kinn heran, Großaufnahme, »warum gibt’s in den Geschäften kein Fleisch?«
Die Journalistin hebt fragend die Brauen, schon im voraus grinsend, mit kaum verhohlener Bereitschaft, gleich loszukichern.
»Weil wir dem Kommunismus mit Sieben-Meilen-Stiefeln entgegeneilen und das Viehzeug uns nicht hinterherkommt. Und genauso ist es auch mit unseren Künstlern, die international erfolgreich sind, die Heimat kommt uns nicht mehr hinterher …«
»So ist es nicht nur mit den Künstlern«, grinst zustimmend die Journalistin. »Genauso verhält es sich mit den Wissenschaftlern, für die sich unsere Akademie der Wissenschaften nicht interessiert, und die dann vom Westen eingekauft werden, oder die Intellektuellen, die sich mit ausländischen Stipendien in alle Winde zerstreuen. Aus unserem Land verschwinden alle hellen Köpfe, wir haben einen brain drain, und wenn es so weiter geht, befürchte ich fast, dass wir in ein paar Jahren wieder auf allen vieren herumkrabbeln … Aber wir bleiben optimistisch, nicht wahr, Wlada?«(DieBlonde, in Erwartung der nächs