: Vladimir Nabokov
: Dieter E. Zimmer
: Pnin
: Rowohlt Verlag Gmbh
: 9783644056510
: 1
: CHF 10.00
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 304
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Der zerstreute Professor Timofey Pnin ist ein einsamer Individualist, den der American Way of Life tief verstört. Der Immigrant wirkt auf seine Umwelt wie ein komischer Versager. Aber seine Würde, sein Ernst, seine Persönlichkeit lassen ebendiese Umwelt lächerlich erscheinen: Sie versagt an ihm. Alles, was Pnin widerfährt, macht uns diesen altmodischen russischen Gelehrten liebenswert. «Ein Wunderwerk des Humors. Ein Jahrhundertroman.» (Marcel Reich-Ranicki, Der Spiegel)

Vladimir Nabokov wird am 22. April 1899 in St. Petersburg geboren. Nach der Oktoberrevolution flieht die Familie 1919 nach Westeuropa. 1919-1922 in Cambridge Studium der russischen und französischen Literatur. 1922-1937 in Berlin, erste Veröffentlichungen, meist unter dem Pseudonym W. Sirin. 1937-1940 nach der Flucht aus Nazideutschland in Südfrankreich und in Paris, seit 1940 in den USA. 1961-1977 wohnt Nabokov im Palace Hotel in Montreux. Er stirbt am 2. Juli 1977.

Kapitel 1


1


Der ältere Reisende, der da auf der Nordfensterseite jenes unerbittlich dahinrollenden Eisenbahnwagens saß, neben sich einen leeren Sitzplatz und zwei leere gegenüber, war niemand anderer als Professor Timofey Pnin. Vollkommen kahl, sonnengebräunt und glattrasiert, wie er war, begann er recht imposant: mit seiner großen braunen Kuppel, einer Schildpattbrille (die verdeckte, dass ihm wie einem Kind die Augenbrauen fehlten), einer gorillahaften Oberlippe, einem dicken Hals und einem Athletenrumpf in einer ziemlich eng sitzenden Tweedjacke – endete dann jedoch einigermaßen enttäuschend mit einem Paar spindeldürrer (jetzt flanellumhüllter und übereinandergeschlagener) Beine und zerbrechlich wirkenden, fast femininen Füßen.

Seine rutschenden Socken waren aus scharlachroter Wolle mit lilafarbenen Rauten; seine konservativen schwarzen geschnürten Halbschuhe hatten ihn etwa so viel gekostet wie seine ganze übrige Garderobe (flamboyanter Ganovenschlips eingeschlossen). Vor den vierziger Jahren, während der gesetzten europäischen Epoche seines Lebens, hatte er stets lange Unterhosen getragen, die Bündchen in die Fesseln adretter, an den Seiten mit feinem Stickmuster verzierter Seidensocken von nüchternem Farbton gesteckt, die entlang seinen baumwollumspannten Waden von Sockenhaltern hochgehalten wurden. Anderen den Anblick jener weißen Unterwäsche zuzumuten, wenn er etwa ein Hosenbein zu hoch zog, wäre Pnin in jenen Tagen genauso ungehörig vorgekommen, als hätte er sich Damen ohne Kragen und Krawatte gezeigt; denn selbst als die angemoderte Madame Roux, die Concierge des schmuddeligen Mietshauses im sechzehnten Arrondissement von Paris – wo Pnin nach seiner Flucht aus dem leninisierten Russland und der Beendigung seines Studiums in Prag fünfzehn Jahre zugebracht hatte –, zufällig einmal zum Kassieren der Miete heraufkam, als er gerade ohne seinenfaux col war, bedeckte Pnin seinen vorderen Kragenknopf mit keuscher Hand. Alles dies änderte sich im berauschenden Klima der Neuen Welt. Jetzt, mit zweiundfünfzig, nahm er mit Hingabe Sonnenbäder, trug er Sporthemden und Freizeithosen, und wenn er die Beine übereinanderschlug, stellte er sorgfältig, absichtsvoll, schamlos ein gewaltiges Stück bloßen Schienbeins zur Schau. So hätte ein Mitreisender ihn gesehen; aber außer einem Soldaten, der am einen Ende schlief, und zwei Frauen, die am anderen Ende in ein Baby vertieft waren, hatte Pnin den Wagen für sich allein.

Hier muss nun ein Geheimnis verraten werden. Professor Pnin befand sich im falschen Zug. Er wusste es nicht, und ahnungslos war auch der Schaffner, der den Zug entlang Pnins Wagen bereits näher und näher kam. Pnin war im Moment sogar durchaus mit sich zufrieden. Als sie ihn eingeladen hatte, in Cremona – etwa zweihundert