I
Die Heide von Lessay ist eine der ausgedehntesten jenes Teiles der Normandie, der die Halbinsel des Cotentin genannt wird. Ackerland, fruchtbare Täler, grüne Heidegründe, fischreiche Wässer finden sich dort; doch ist das Cotentin, diese fette und ertragreiche Scholle, wie die Bretagne, der Pauvresse-aux-Gênets benachbart, einem jener brachen und kahlen Gebiete, die der Wanderer meidet und wo nichts gedeiht außer spärlichem Gras und kargem, bald verdorrtem Heidekraut. Solch unbebaute Landstriche, des Wachstums bare Strecken, kahlköpfige Hügel stechen gemeiniglich von den sie umgebenden Ländereien auffallend ab. Sie sind inmitten der Fülle Oasen der Unfruchtbarkeit, so wie im Wüstensand sich grünende Oasen finden. Sie unterbrechen die lachenden, frischen und fruchtbaren Landschaften mit herben Bildern der Traurigkeit und Sorge. Sie lassen ihre Schatten dunkler werden … Zumeist ist der Horizont der Heidegründe wenig weit. Betritt der Wanderer sie, überfliegt sein Blick sie bis an ihre Grenzen. Allseits frieden die Hecken bebauter Felder sie ein. Findet man hier ausnahmsweise Heidegebiete, die sich weitflächig breiten, so ist schwer zu schildern, welchen Eindruck sie in dem Beschauer hervorrufen. Ihr tiefer und seltsamer Zauber fesselt Blick und Herz. Wer kennte nicht den Zauber der Heide? Nur Seelandschaften, Meer und Dünen sind vielleicht von gleich ausdrucksvoller Eigenart und vermögen noch stärker zu bewegen. Sie sind wie letzte Fetzen ursprünglicher und wilder Poesie auf der von des Menschen Hand und Werkzeug verwandelten und verwundeten Erde. Heilige Überreste, die schon morgen vom Atem modernen Industrialismus verweht sein können; denn unsere grob materialistische und nutzgierige Epoche müht sich, jegliche Unberührtheiten und Unbezähmtheiten auf dem Erdkreis wie in der Menschenseele zu tilgen. Immer gewinnlüstern, ist die Gesellschaft, greise Haushälterin, die von der Jugend einzig die Gelüste bewahrt und sich mit ihren Einsichten brüstet, ebenso unfähig, das Göttlich-Unbewusste des Geistes, die Poesie der Seele zu begreifen, stets gewillt, sie gegen unselige immer unvollständige Kenntnisse einzutauschen, wie sie unfähig ist, die unter scheinbarer Nutzlosigkeit der Dinge verborgene und sichtbare Poesie der Schau anzuerkennen. Wenn diese furchtbare Regsamkeit des modernen Denkens anhält, so wird es in wenigen Jahren kein armes Stücklein Heide mehr geben, auf dem die Phantasie träumend ruhen könnte, wie der Reiher gedankenvoll auf einem Bein steht an abendlicher Tränke. Unter der Herrschaft des schwergewichtigen Genius leiblichen Behagens, die man für Zivilisation und Fortschritt ausgibt, werden weder Ruinen noch Bettler, weder Einöden noch Aberglauben bestehen, wie sie Gegenstand dieser Geschichte sind, wenn unsere weise Zeit uns überhaupt den Mund nicht verbietet.
Eben diese zweifältige Poesie unberührter Scholle und Unaufgeklärtheit ihrer Bewohner war es, die man vor kurzen Jahren noch in der wilden und unberührten Heide von Lessay finden konnte. Jene, die sie damals kannten, können es bezeugen. Zwischen La Haye-du-Puits und Coutances gelegen, eignete dieser normannischen Wüste eine großartige Verlassenheit und trostlose Traurigkeit, die sich unvergesslich einprägten, wo nicht Baum noch Haus, Hecke und irgend Zeichen menschlichen Lebens zu finden waren, außer Spuren des Wanderers oder der Herden vom gleichen Morgen im Staub bei trockenem Wetter, oder im aufgeweichten Lehm der Straße bei Regen. Die Heide erstreckte sich, wie es hieß, sieben Meilen weit. Um geradenwegs hindurchzukommen, brauchte ein gutberittener Mann gewiss mehr als zwei Stunden. Nach Meinung der ganzen Gegend war es ein gefahrvoller Weg. Wenn man von Saint-Sauveur-le-Vicomte, diesem Flecken, so hübsch wie ein schottisches Dorf, wo Du Guesclin seine Burg gegen die Engländer verteidigte, oder von der Küste der Halbinsel aus in Coutances zu tun hatte und der Zeitersparnis wegen den Heideweg einschlagen wollte – denn Landstraßen und öffentliche Postkutschen gab es auf jener Seite nicht – so tat man sich zu mehreren zusammen, um die bedenkliche Einöd