: Brigit Müller-Wieland
: Flugschnee
: Otto Müller Verlag
: 9783701362486
: 1
: CHF 17.20
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 250
: kein Kopierschutz
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
'Was macht das Glück einer Familie aus? Wenn es - neben vielen Komponenten wie der Abwesenheit von Krankheiten, sicherem Einkommen und dergleichen - gemeinsame Erinnerungen sind, die Zusammenhalt ermöglichen, miteinander gelebte Vergangenheit', so denkt Lucy an einem Dezembertag in Berlin an eine unglückliche Familie. Ihr Bruder Simon ist verschwunden. Das Nachdenken über ihn führt sie zu einem früheren Wintertag ins Haus der Großeltern in Hamburg, an dessen Ende etwas geschah, das den Kindern verschwiegen wurde. Dieses Schweigen bestimmt nicht nur die weitere Zukunft, sondern reicht auch in die Generation der Großeltern und Urgroßeltern zurück, welche sich in vielfältig Ungesagtes verstrickten, politisches, persönliches. Helene, die Großmutter, kämpft gegen Ende ihres Lebens allerdings umso vehementer um ihre Erinnerungen: jede, auch die schlechteste, ist ihr willkommen, um dem 'Schmelzen im Kopf' zu widerstehen. Schnee und Stein sind in diesem Roman die Materialien, an denen die Figuren scheitern oder wachsen, an denen sie dem Bedrohlichen eine Form abzuringen, dem Zerstörerischen ein 'Dennoch' entgegenzusetzen versuchen.

Birgit Müller-Wieland: 1962 in Oberösterreich geboren. Studium der Germanistik und Psychologie in Salzburg, Promotion über Die Ästhetik des Widerstands von Peter Weiss. Schreibt Gedichte, Prosa, Essays, Libretti. Für ihre Bücher erhielt sie zahlreiche Förderungen (u.a. den Rauriser Förderungspreis, das Adalbert-Stifter-Stipendium, das Stipendium des Berliner Senats) und wurde u.a. mit dem Reinhard-Priessnitz-Preis, dem Harder Literaturpreis und dem Tübinger Würth-Preis ausgezeichnet. 2015/16 wurde ihr das Projektstipendium des Bundeskanzleramtes für ihre Lyrik zuerkannt. Birgit Müller-Wieland lebt nach elf Jahren in Berlin nun in München, wo sie u.a. als Projektleiterin des Lyrikkabinetts an Schulen unterrichtet.

Berlin, Dezember

Lucy

1

Nach Hause möchte ich.

Dieser Satz war in mir, Simon, heute Morgen, als ich aufwachte und nicht mehr wußte, was geschehen war.

Nichts wußte ich mehr, nichts von dir oder mir oder irgendjemandem sonst.

Nur dieses diffuse Gleiten gab es, wenn man sich in den Tag hineinarbeitet, aus Träumen heraus oder Drogen.

Und etwas mitnimmt: ein Bild, eine Stimme, einen Satz.

Überall war es weiß, als ich aufblickte, makellos weiß, eine Art grundloses Existieren – es zog einen Schmerz nach sich. Der Schmerz war wie etwas, das ich einmal gekannt, aber irgendwann vergessen hatte.

Weißweißweiß.

War es Licht?

War es Farbe?

Der Satz blieb. Er glühte weiter in dieser blendenden Gleichgültigkeit, die alles erfüllte – außen wie innen.

Aber nach einer Weile, die eine Sekunde gewesen sein könnte oder eine Stunde, dachte ich: nein. Nicht weiß. Nicht weiß ist das, sondern grau, gräulich. Eine glatte Fläche. Und je länger ich sie betrachtete, desto mehr veränderte sie ihre Struktur, wurde porös, löste sich schließlich auf in Helles und Schattiges. Und später oder gleich taten sich diese feinen Linien auf, ein Netz von Linien, und in den Ecken weiteten sie sich aus, zu Rissen.

Und während ich all das sah, war klar: Ich bin das, Lucy.

Nach Hause möchte ich.

Dann begriff ich: Das ist die Decke meines Zimmers.

Ich liege im Bett.

Das Zimmer muß ausgemalt werden, dringend.

Stop. Falsch.

Es dauerte, bis ich fähig war zu erkennen, was falsch war. Worum es ging.

Darum ging es: Um meinen Körper.

Mein Körper war nicht mehr da.

Keine Schwere von Armen und Beinen, kein Kopf im Kissen, keine Zunge, keine Zähne im Mund.

Das war das Seltsamste: dieses Nichts.

Nur mehr aus zwei Augen bestand ich, die nach oben starrten und die Decke des Zimmers betrachteten, mit dem abgebrochenen Stuckkranz aus Lorbeerblättern in der Mitte.

Von einem Lorbeerblatt hing ein Faden, ungefähr