KAPITEL 1
11. April, anno 1452, Vogtei zu Hauenstein
Niemand schlug Alarm. Der Bewuchs des steilen Hangs bot Simon in der einbrechenden Dämmerung genug Deckung, um sich der Burg ungesehen zu nähern. Die dunkelgrauen Mauern ragten schroff vor ihm auf. Doch Simon richtete den Blick zu Boden. Er suchte den Stein, den er beim letzten Mal mit einer Markierung versehen hatte. Rechts machte er die Ausläufer des Brombeerdickichts aus, das sich bis zum Burggraben erstreckte. Er wandte sich in die entgegengesetzte Richtung.
Beinahe wäre er über den Stein gestolpert. Er bückte sich und fand im schwindenden Licht die eingeritzte Kerbe. Er war also richtig! Er ging fünf Schritte in die Richtung, die ihn die Kerbe gewiesen hatte, und stieß auf die mit Moos bewachsene und damit fast unsichtbare Falltür. Die schwere Klappe ließ sich gerade weit genug öffnen, dass Simon sich hindurchzwängen konnte.
Seine Augen brauchten einen Moment, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. In unregelmäßigen Abständen drang ein schwacher Lichtstrahl durch ein Loch in der Felsendecke und spiegelte sich in den Pfützen auf dem unebenen Boden. Es war gerade hell genug, um den Weg durch den Geheimgang erahnen zu können. Schnell erreichte Simon die nächste Tür, die in ein breites Mauerfundament eingelassen war. Die alten Scharniere knarrten beim Öffnen.
Simon betrat einen Raum, in dem verstaubtes Baumaterial, rissige Hanfseile und mehrere faulig riechende Heuballen unter dichten Spinnweben lagerten. Eine niedrige Öffnung in der Wand führte in einen Gang, der den belebten Burghof mit weiteren Lagerräumen und einer steilen Wendeltreppe verband. Er wandte sich zur Treppe. Lautlos nahm er die Stufen auf ihrer breiten Seite. Nur einmal hielt er kurz inne, um zu lauschen. Keine Schritte über ihm. Er konnte weiter.
Vielen hätte der steile Aufstieg zu schaffen gemacht, aber Simon atmete immer noch ruhig, als er die Zinnen der Wehrmauer erreichte. Von links hörte er die Schritte zweier Wachmänner. Einer der beiden gab lauthals eine Geschichte zum Besten, und beide lachten. Simon wandte sich in einer fließenden Bewegung nach rechts und bog um die Ecke, bevor die Wachen ihn entdeckten.
Als er außer Sicht war, verharrte er für einen Moment regungslos. Er presste sich an die Wand und spürte den Knoten am Rücken. Vorhin beim Aufstieg zur Burg hatte er den gerissenen Lederriemen des Rucksacks notdürftig geflickt. Der Knoten schien zu halten.
Die Stimmen waren nun weiter weg. Wenn Simon diesem Mauerabschnitt folgte, würde er von der Rückseite her zum Wohnbereich der Burg gelangen. Es war Sonntag, da sollten eigentlich weniger Wachen die Zinnen bemannen. Simon huschte weiter.
»Habt Acht!« Der Ruf kam vom Bergfried. Simon hechtete hinter einen Mauervorsprung.
»Reiter auf dem Weg zum Tor! Habt Acht!«
Erleichtert atmete Simon aus. Der Alarmruf galt nicht ihm. Kurz richtete er sich auf, um einen Blick über die Mauer zu werfen. Er musste sich recken, um durch eine Lücke zwischen den Bäumen mehrere Reiter auf prächtigen Rössern zu sehen. Ihnen folgten zwei Reihen schnaufender Soldaten zu