Kapitel Eins
Der Persische Golf
Alif saß auf dem Betonsims seines Zimmerfensters und badete in der heißen Septembersonne. Das Licht brach sich an seinen Wimpern. Wenn er durch sie hindurchsah, wurde die Welt zu einem verpixelten Fries aus Blau und Weiß. Starrte er zu lange so unkonzentriert vor sich hin, bekam er einen stechenden Schmerz in der Stirn, und dann senkte er den Blick, um zu beobachten, wie hinter seinen Augenlidern Schatten aufblühten. Neben seinem Fuß lag ein schlankes, in Chrom gefasstes Smartphone – ein Plagiat, aber ob es von China nach Westen oder von Amerika nach Osten gelangt war, wusste er nicht. An Handys pfuschte er nicht herum. Ein anderer Hacker hatte das Betriebssystem für ihn eingerichtet und die Verschlüsselung umgangen, die von irgendeinem Telekommunikationsgiganten installiert worden war, der das Monopol auf das Patent hatte. Es zeigte die vierzehn Nachrichten an, die er Intisar im Verlauf der letzten zwei Wochen geschickt hatte, mit der selbstauferlegten Obergrenze von einer pro Tag. Alle waren unbeantwortet geblieben.
Er betrachtete das Smartphone durch halbgeschlossene Augen. Wenn er jetzt einschlief, würde sie anrufen. Er würde, sobald das Telefon klingelte, mit einem Ruck aufwachen und es aus Versehen vom Sims in den kleinen Innenhof schleudern, und dann müsste er nach unten eilen und es zwischen den Jasminsträuchern suchen. Diese kleinen Missgeschicke könnten ein größeres Unglück verhindern: die Möglichkeit, dass sie gar nicht anrufen würde.
»Das Entropiegesetz«, sagte er zu dem Telefon. Es funkelte in der Sonne. Unter ihm flitzte die schwarzorange Katze, die im Innenhof schon Käfer jagte, so lange er denken konnte, über den glühend heißen Boden und hob dabei ihre rosa besohlten Pfoten an, um sie abzukühlen. Als er sie rief, gab sie ein gereiztes Maunzen von sich und schlich sich unter einen Jasminstrauch.
»Zu heiß für Katze oder Mensch«, sagte Alif. Er gähnte und schmeckte Metall. Die Luft war dick und ölig, wie der Atem einer großen Maschine. Sie griff die Lunge an, anstatt ihr Erleichterung zu verschaffen, und rief, im Zusammenspiel mit der Hitze, ein instinktives Gefühl der Beklemmung hervor. Intisar hatte ihm einmal erzählt, dass dieStadt ihre Einwohner hasse und versuche, sie zu ersticken. Sie – dieStadt – erinnere sich an eine Zeit, als reinere Gedanken noch reinere Luft erzeugten: die Regierungszeit von Scheich Abdel Sabbour, der so tapfer den Vormarsch der Europäer aufzuhalten versucht hatte; die Anfänge von Jamat Al Bashira, der großen Universität; und früher noch Pari-Nef, Onieri und Bes, wo im Sommer Hof gehalten wurde. Sie habe freundlichere Namen gehabt als den, den sie heute trägt. Von einem Dschinn-Heiligen islamisiert (so zumindest besagte es die Geschichte), liege sie am Scheideweg zwischen der irdischen Welt und dem Leeren Viertel, dem Reich der Ghule und Ifrit, die die Gestalt von Tieren annehmen können. Ohne den Segen des Dschinn-Heiligen, der unter der Moschee Al Bashira begraben liegt und der die Botschaft des Propheten gehört und geweint hatte, wäre dieStadt jetzt so vom Verborgenen Volk überrannt, wie sie es mit Touristen und Ölspekulanten war.
Man könnte fast meinen, dass du das glaubst, hatte Alif zu Intisar gesagt.
Natürlich glaube ich das, sagte Intisar, zumindest das Grabmal ist echt