Ein klasse Treffen
Das Schreiben war im Altpapier gelandet. Erst am Container fiel es Martin Meier wieder in die Hände, als er mit klammen Fingern versuchte, einen leeren Eierkarton hochkant in den Öffnungsschlitz zu schieben. Es nieselte ihm nasskalt in den Nacken, und an den Fingerspitzen fror er, obwohl es bereits März war, geradezu erbärmlich. Martin Meier steckte den Brief ein wenig umständlich in seine vordere rechte Manteltasche und vergaß ihn, bis er am übernächsten Morgen nach seinem Wohnungsschlüssel suchte und stattdessen das Kuvert ertastete.
Kurios, dass sie die Einladungen schon so früh verschickten. Bestimmt hatten sie es längst in den sozialen Netzwerken kommuniziert, die wichtigsten Zusagen auf elektronischem Wege eingesammelt und nur den virtuell Verschollenen noch ein – zugegebenermaßen freundliches – Erinnerungsschreiben zukommen lassen. Wie viele Adressen wohl noch stimmen mochten? Ein Wunder geradezu, dass sie seine hatten, war er doch erst vor einem halben Jahr in die billige Vorortbude gezogen. Zwar studierte er noch immer in der Stadt, in der er vor fast zehn Jahren sein Abitur abgelegt hatte, aber die Stadt war groß, und seine Adresse hatte recht häufig gewechselt, genau wie seine Studiengänge.
Martin Meier fragte sich, ob sie seine neue Adresse von seinen Eltern haben könnten. Bei dem Gedanken empfand er eine gewisse Scham, hatte er seine Eltern zuletzt vor über drei Jahren empfangen, als er noch mit Claudia zusammenlebte. Nachdem sich die Sache mit Claudia erledigt hatte, hatten sich auch die Eltern rargemacht – vielleicht weil sie ahnten, dass die Attraktivität seiner Bleibe mit dem Verlust des weiblichen Faktors ebenfalls schwinden würde. Wie richtig sie damit doch lagen und wie lieb von ihnen, seine Adresse weiterzugeben, ohne dabei am Telefon in Tränen auszubrechen. Gewiss waren sie tapfer geblieben und hatten den schönen Schein gewahrt. Er würde sie einladen müssen – bald, wenn er wieder Land sah.
Martin Meier war nie der Typ gewesen, der die Organisation von irgendetwas an sich riss.
Wer wohl zum »Orga–Team« gehörte, das den Brief mit diesem Ausdruck unterzeichnet hatte? Bestimmt Silke und Rainer. Es waren immer Silke und Rainer gewesen. Damals, bei der Abiturfeier, hatten sie diesen sündhaft teuren Amischlitten klargemacht, der die Spitze ihres Jubelkorsos bildete, und auch die Tanzband, das Buffet und die Örtlichkeit. Es war seinerzeit schwer gewesen, irgendetwas über die Köpfe von Silke und Rainer hinweg zu entscheiden, und am besten man machte es wie Martin Meier, der sie einfach machen ließ. Martin Meier war nie der Typ gewesen, der die Organisation von irgendetwas an sich riss, im Gegenteil: Er liebte es, den Dingen ihren Lauf zu lassen. Das »Orga–Team« hatte also seinen Segen – wer auch immer es sein mochte.
Es war klar, dass Martin Meier nicht zum Abiturnachtreffen gehen konnte. Das war völlig ausgeschlossen. Zu schnell wäre seine Geschichte erzählt gewesen. Zum Wehrdienst untauglich hatte er sich direkt