Das Musterkind:
Wie alles begann
Wie das in der Regel so ist mit den Entstehungsgeschichten, war meine eigene für mich selbst zunächst eher unspektakulär. Meine Mutter hätte dazu vielleicht etwas mehr beitragen können. Aber da es hier ja um mich geht und nicht um meine Mutter, kann ich Ihnen nur berichten, wie sich die Sache für die kleine Erika darstellte.
Es war das Jahr 1971. Meine Eltern Renate und Erwin Mustermann lebten in einem schmucken Reihenmittelhaus am Stadtrand von München. Nachdem sie ihr Hochzeitsgeld ebenso wie ein Startkapital aus zwei Bausparverträgen in die Anzahlung ihres Eigenheims, eine massive Schrankwand Eiche rustikal, eine graubraune Sofagarnitur und einen Küchentraum im legendären Siebzigerjahre-Grün investiert hatten, fanden sie es an der Zeit, eine Familie zu gründen. Mit 24 und 26 Jahren waren sie im allerbesten Alter für das erste Kind. So kam es, dass sich schon bald die kleine Sabine ankündigte, die ihr Leben für immer verändern sollte. Und die Mustermanns wollten noch mehr. Da sie mit meiner Schwester Sabine offenbar nicht vollständig ausgelastet waren, trafen sie rund ein Jahr nach ihrer Geburt eine revolutionäre Entscheidung: Sie wollten ein zweites Kind. In einer Zeit, in der jede deutsche Frau in ihrem Leben statistisch gesehen rund 1,6 Kinder zur Welt brachte, müssen sich die mustergültigen Mustermanns gefühlt haben wie eine Großfamilie. Die angepasstesten Eltern der Welt waren im Begriff, die Statistik zu übertreffen.
Doch zurück zum Tag meiner Geburt. Ich hatte mir scheinbar schon früh vorgenommen, mich mit meinen Eltern und dem Rest meiner kleinen Welt gut zu stellen und kam pünktlich zum errechneten Geburtstermin auf die Welt. Ganz im Gegensatz zu Sabine, die unsere Eltern schon vor ihrem ersten Zusammentreffen auf eine harte Probe gestellt hatte. Erst hochdosierte Wehenmittel und die Androhung eines Kaiserschnitts hatten meine Schwester zwei Jahre zuvor davon überzeugen können, endlich den Mutterleib gegen die harte Realität einzutauschen. Wäre es nach ihr gegangen, dann hätte ich mir wahrscheinlich nach all den Jahren immer noch die Gebärmutter mit ihr teilen müssen. Mit tagelanger Verspätung und unter heftiger Gegenwehr war sie dann schließlich auf der Bildfläche erschienen. Schreiend natürlich. Man munkelt, Sabine habe schon lauthals geschrien, bevor sie überhaupt das Licht der Welt erblickt hatte. Im Mutterleib also. Und obwohl ich das für ein Gerücht halte: Jeder, der meine Schwester kennt, hat sich sicher schon mehr als einmal gefragt, ob es nicht doch der Wahrheit entspricht.
Auf jeden Fall hatte Sabine mit ihrem dramatischen ersten Auftritt die Messlatte für das zweite Kind der Familie angenehm niedrig angesetzt. So kam es, dass ich mit meiner eigenen, fast etwas langweiligen Geburt gleich richtig punkten konnte. Flupp, da war ich. Eine kleine Erika. 3400 Gramm schwer, 52 Zentimeter groß. Schrumpelig, glitschig und eher schlecht gelaunt. Alles ganz normal. Die Hebamme säuberte mich notdürftig und reichte mich meiner glücklichen Mutter.
»Da ist sie«, sagte sie überflüssigerweise – ich bin sicher, meiner Mutter war mein Erscheinen durchaus schon aufgefallen. »Ihre kleine Erika. Ein wahresMusterkind.«
Auch wenn ich selbst in diesem Moment über eine rein körperliche Anwesenheit wohl nicht hinauskam, meine ich mich deutlich an den Gesichtsausdruck der Hebamme zu erinnern. Sie schien mächtig stolz auf ihr kreatives Wortspiel. EinMusterkind. Ich war die buchstäbliche Neugeburt de